Flusslandschaft 2001

Flüchtlinge

1990 begannen MitarbeiterInnen der Initiative für Flüchtlinge e.V. (IfF), darunter Anni Kammer-
lander, sich intensiv für die Einrichtung eines psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge in Mün-
chen zu engagieren. Im Stadtrat wurden 1991 zwei Anträge zur Gründung eines psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge in München abgelehnt. Dr.med. Waltraut Wirtgen trat 1992 der Grün-
dungsinitiative bei und engagiert sich u.a. bei der Unterschriftensammlung zur Gründung eines psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge. Den Aufruf unterschrieben u.a. Hans-Jochen Vogel, Hildegard Hamm-Brücher, Dieter Hildebrandt, Walter Jens, Sissi Perlinger und viele andere. Im Januar 1993 beschloss der Münchner Stadtrat die Gründung eines psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge. Im April erfolgte die Gründung des Fördervereins Refugio München e.V. Im Septem-
ber erfolgte der Auftrag der Stadt München zur Gründung und Trägerschaft eines psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge durch die Initiative für Flüchtlinge (IfF) e.V. Gleichzeitig Gründung des Unterstützerverbandes für Refugio München (Stadt München, BRK, Caritas, AWO). Im Mai 1994 fand die Eröffnung und Einweihung des Beratungs- und Behandlungszentrums Refugio München in der Rauchstraße. Das Personal bestand neben der Geschäftsführerin aus zwei Psychologen, zwei Sozialarbeitern, einer Bürokraft (alle Teilzeit) und einer ehrenamtlichen Ärztin. 1999 ging www.refugio-muenchen.de online. 2001 zieht Refugio in größere Räumlichkeiten am Mariahilf-
platz 10 um. 2009 feiert Refugio sein 15-jähriges Jubiläum. Der Haushalt ist inzwischen auf über 1,3 Mio EUR gestiegen. Jährlich müssen hiervon ca. 56 Prozent durch Spenden und andere Zuwen-
dungen sichergestellt werden müssen. Die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Mitarbeiter ist auf Achtzehn gestiegen.1

Im Mai 1999 starb der Flüchtling Mohamed Aamir Ageep bei der Abschiebung in den Sudan an Bord einer Lufthansa-Maschine. Bundesgrenzschutz-Beamte hatten ihm einen Motorradhelm aufgesetzt und ihn solange auf den Sitz nach unten gedrückt, bis er erstickt war. Seitdem fordern immer mehr Organisationen den Stopp aller Abschiebungen gegen den Willen des Betroffenen, darunter auch die Gewerkschaft ÖTV und die Pilotenvereinigung Cockpit. Für den 20. Juni 2001 mobilisieren Menschenrechtler anlässlich der Aktionärsversammlung der Kranich-Linie zur ersten regulären Online-Demonstration in Deutschland – offiziell angemeldet beim Ordnungamt Köln durch die beiden Initiativen Kein Mensch ist illegal und libertad!. Die Online-Demonstration ist als virtuelles Sit-In geplant. Es funktioniert fast wie im richtigen Leben: Je mehr Menschen zu einem vereinbarten Zeitpunkt ein bestimmtes Internetangebot abrufen, umso langsamer werden die Zugriffszeiten. Es geht nicht darum, einen Server – wie bei den anonymen „Denial-of-Service (DoS)“-Attacken – vorsätzlich und mit geringst möglichem Aufwand zum Absturz zu bringen, sondern dessen Funktionstüchtigkeit durch ordnungsgemäße Benutzung zu beeinträchtigen, um einer politischen Willensbekundung Ausdruck zu verleihen. Mit zahlreichen Aktionen auf Flug-
häfen, in Reisebüros und im Internet macht Kein Mensch ist illegal seit März der Fluglinie schwer zu schaffen. Unter dem Slogan „Deportation-Class – Gegen das Geschäft mit Abschiebungen“ fordern die AktivistInnen, dass der Luftfahrtkonzern diesen Geschäftsbereich aufgibt und keine Zwangspassagiere mehr befördert. Der Auftakt der Online-Aktion findet am Montag, 28. Mai, um 20 Uhr in der Münchner Muffathalle statt: Dort wird der New Yorker Internet-Protest-Pionier Ricardo Dominguez zusammen mit Aktivisten der „Deportation-Class“-Kampagne das Konzept der Online-Demonstration sowie die Frage der „virtuellen Demonstrationsfreiheit“ erörtern.

Als Konsequenz aus den Terroranschlägen in den USA vom 11. September verlangt der bayerische Innenminister Beckstein Zugriffsmöglichkeiten der Sicherheitsbehörden auf die Daten von Asylbe-
werbern. Beckstein sagt, für alle Zuwanderer müsse eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz eingeführt werden. Dagegen wenden sich Vertreterinnen und Vertreter der Friedensbewegung: „Gegen Terrorismus und ‘wahnsinnsgeleitete Aktionen blinder Gewalt’ gebe es keinen hundertpro-
zentigen Schutz, erklärte Peter Strutynski vom Bundesausschuss Friedensratschlag. Eine Politik, die den Terrorismus wirksam bekämpfen und eindämmen wolle, müsse ihm den sozialen, politi-
schen und ideologischen Nährboden entziehen. Ein Klima des Hasses und der Intoleranz und eine Politik, die Gewalt mit Gegengewalt und Gegengewalt mit neuer Gewalt beantworte, bereite auch den Boden für Terrorakte. Sicherheit könne heute nicht mehr nur durch noch so ‘perfekte’ militä-
rische Sicherheitsvorkehrungen gewährleistet werden, so Strutynski. Nichts offenbare dies deut-
licher als die Schutzlosigkeit der Großmacht USA gegenüber den terroristischen Anschlägen. Die Politiker, die jetzt wieder nach mehr Rüstungsausgaben, Waffen und Militär verlangten, müssten begreifen, dass Sicherheit heute vor allem sozial, kulturell, ökonomisch und politisch definiert werden müsse und ‘dass Sicherheit letztlich eine Frage der Gerechtigkeit ist’. Die Friedensbewe-
gung plädiere aus diesen Gründen für besonnene Reaktionen der Politik, sagte Strutynski. Dem Terrorismus durch zivile Maßnahmen und durch die Stärkung des Rechts und der Gerechtigkeit den Boden zu entziehen, das sei langfristig das bessere Mittel als der Gedanke an Rache und militärische Vergeltung.“2

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Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen: „Stoppt die rassistische „Law-and-Order“-Mobilisierung!“ In einem Flugblatt weist die Karawane auf die im Zuge der Terroranschlä-
ge vom 11. September beabsichtigten Verschärfungen im Bereich der „Inneren Sicherheit“ hin und warnt vor der erneuten Auflage des Feindbildes vom „kriminellen und fanatischen Ausländer“. Die Karawane wehrt sich mit Nachdruck gegen die geplanten Maßnahmen: „Regelanfrage beim Ver-
fassungsschutz für ZuwanderInnen, Verschärfung der Visaregelungen und eine obligatorische Ver-
fassungsschutzprüfung für Menschen aus bestimmten Ländern, erweiterter Datenabgleich zwi-
schen Bundesamt für Asyl, Ausländerbehörden und Polizei sowie erweiterter Erkennungsdienst beim Asylverfahren, Einführung eines „Anti-Terror-Paragraphen“ 129 b, d.h. Ausweitung des § 128a (Bildung einer/Unterstützung einer/Werbung für eine terroristische Vereinigung), Interna-
tionale Solidarität statt „Kampf der Kulturen“! Kein Mensch ist illegal!“ – Die Karawane ruft für Samstag, 27. Oktober, auf zu einer Demo für Legalisierung und gleiche Rechte in München. Auf-
takt am Stachus. Aus aktuellem Anlass richtet sich der Protest zudem gegen die Pläne von Innen-
minister Schily für ein sog. „Zuwanderungsgesetz”, das vor allem gegen abgelehnte und „ausreise-
pflichtige” Asylsuchende eine weitere Verschärfung beinhaltet.

„Ende 2002/Anfang 2003 sind nur noch wenige Aktive in der Karawane. „Der Rückzug aktiver Leute aus der Gruppe mag unter anderem an Ärger über männliche Mackerattitüden sowie an Schieflagen im Verhältnis zwischen Flüchtlingen und Nicht-Flüchtlingen gelegen haben – auch eine Gruppe wie die Karawane ist nicht immer frei davon, dass sich Menschen durch sexistische und rassistische Denk- und Handlungsweisen sowie durch Mangel an Offenheit und Solidarität gegenseitig das Leben schwer machen. Ein Grund für die Tiefphase war gewiss auch, dass in der Karawane lange Zeit eine starke Fluktuation von Mitgliedern und ein Mangel an gefestigter Struktur vorherrschend waren. Auf jeden Fall erschien es zwischendurch fraglich, ob sich die Gruppe unter solchen Bedingungen überhaupt noch aufrecht erhalten lassen würde. Trotz allem lag es den verbliebenen Aktiven am Herzen, ein Projekt wie die Karawane, für das es in München nichts vergleichbares gab und gibt, nicht ersatzlos eingehen zu lassen.“4

Siehe auch „Frauen“ und „www“.


1 Siehe „Einweihungsrede am Mariahilfplatz 10“ von Siegfried Benker.

2 junge welt vom 13. September 2001, www.jungewelt.de/2001/09-13/011.shtml.

2 Netzwerk, Berlin

3 Karawane München – die ersten zehn Jahre, München 2008, 16.