Flusslandschaft 2003

Flüchtlinge

„Januar 2003: Améganvi Kossi aus Togo wird freigelassen, nachdem die Abschiebung mit Faxen und Anrufen bei der Fluglinie KLM und Protest am Schalter verhindert wurde. Er kann durch einen Deal mit den Behörden in ein anderes Land ausreisen.“1

Am 9. Januar durchsuchen „über 100 Beamte des Bundesgrenzschutzes (BGS) in München, Stutt-
gart und Frankfurt am Main zwölf Wohnungen und Büros. Ein 42-jähriger Mann wird verhaftet, der als einer der ,Drahtzieher‘ einer international agierenden Organisation gilt, die über Jahre hinweg hunderte Menschen aus Südosteuropa und Nordafrika illegal nach Deutschland gebracht haben soll.“2

Am 8. Februar wird Dope Bickewu vom Münchner Flughafen aus nach Togo abgeschoben.3

Im März tritt die so genannte Dublin II-Verordnung, eine Verordnung der Europäischen Union, in Kraft. In Zukunft ist ein Asylantrag nur noch im Lande der Einreise möglich. Stellt der Asylsuchen-
de dennoch in einem anderen Mitgliedstaat seinen Asylantrag, wird kein Asylverfahren durchge-
führt und der Asylsuchende in den zuständigen Staat zurückgebracht. So ist die Bundesrepublik als Binnenstaat Europas aus dem Schneider; die Probleme werden in die Staaten an den EU-Außen-
grenzen verlagert, welche eine restriktive und zutiefst menschenverachtende Haltung gegenüber Asylsuchenden entwickeln.4

„Im Mai steigt die zweite „Deutschland Lagerland”-Demo in München. Wieder sind viele Flüchtlin-
ge dabei. Einige der Beteiligten sind kurz danach auf Initiative des Münchner Flüchtlingsrates bei einer einwöchigen Dauerversammlung in der Lukaskirche dabei. Togoische und äthiopische Fami-
lien protestierten dort gegen ihre drohende Abschiebung. – Während der Sommermonate 2003 kämpft die Karawane gegen die Abschiebung einer Familie aus Togo. Das Kreisverwaltungsreferat schreckt nicht davor zurück, die beiden Söhne, die ihr ganzes Leben in München verbracht haben, gewaltsam aus ihrem Lebensumfeld herauszureißen. Aus der Schule und dem Kindergarten betei-
ligen sich viele am Kampf für das Bleiberecht. Höhepunkt der Kampagne ist eine Pressekonferenz mit versammelter Schulklasse. Die Geschichte findet starke Resonanz in der Münchner Lokalpres-
se. Die Abschiebungspläne werden schließlich fallengelassen, die Familie kann bleiben. – Im Au-
gust demonstrieren togoische Exilgruppen mit Unterstützung der Karawane in München gegen die Wahlfarce in Togo, mit der das Eyadema-Regime eine Demokratisierung vortäuscht, während gleichzeitig die Opposition brutal unterdrückt wird. Der Protest richtet sich auch gegen Abschie-
bungen von TogoerInnen …“5

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24. Mai auf dem Stachus

Seit dem 1. Juli 2002 ist der Freistaat Bayern für Flüchtlinge ohne gesicherte Aufenthaltstitel zu-
ständig. Einige Flüchtlinge haben es geschafft, trotz ihrer schwierigen Situation eine Wohnung anzumieten. In München sind es etwa vierhundert Personen in etwa hundert Haushalten. Auf-
grund des Unterbringungsgesetzes vom 1. Juli 2002 will die Regierung von Oberbayern die Flücht-
linge zwingen, ihre Wohnungen zu verlassen und in staatliche Gemeinschaftsunterkünfte einzuzie-
hen. Es wird dabei keine Rücksicht darauf genommen, dass viele Flüchtlinge seit Jahren in diesen Wohnungen leben, integriert sind und die Kinder in Schulen und Kindertagesstätten in der Nähe gehen. Für viele kritische Beobachter erhärtet sich der Verdacht, dass eine „Kasernierung“ der Flüchtlinge ohne gesicherte Aufenthaltstitel Abschiebungen unkomplizierter machen sollen. Am Samstag, dem 24. Mai 2003, findet eine Demonstration unter dem Motto „Ausreisezentren ab-
schaffen!“ statt. Ab 10 Uhr befinden sich Infostände am Stachus, für 12 Uhr ist die Kundgebung und die Demo angekündigt.

Am 8. Juli soll Dr. Waltraut Wirtgen des Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen werden. Sie engagiert sich bei amnesty international (ai) und bei den Ärzten zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) und kam 1992 zur Initiative für Flüchtlinge, später Refugio. In vieler Hinsicht über-
schreitet sie mit ihrem Engagement den gesetzlich vorgegebenen Rahmen. Jetzt ist sie sich un-
schlüssig, ob sie die Auszeichnung annehmen soll, da die Politik der BRD das Gegenteil dessen durchsetzt, was sie erwartet. Schließlich nimmt sie die Auszeichnung nicht für sich, sondern für alle, die sich in Refugio engagieren, an.7

Das Münchner Sozialreferat hat eine wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag gegeben. Im August 2003 erscheint Philipp Andersons „Dass sie uns nicht vergessen …“ Menschen in der Illegalität in München. Eine empirische Studie im Auftrag der Landeshauptstadt München: Etwa 30.000 bis 50.000 Illegale leben in München, viertausend Illegale werden in München pro Jahr festgenommen. Die meisten von ihnen verstecken sich, wollen leben und arbeiten und oft die Familien in ihrer Heimat unterstützen. Problematisch wird es für sie dann, wenn sie erkranken, einen Unfall haben, öffentliche Behörden kontaktieren, ihre Kinder in die Schule, den Kinder-
garten, den Hort, die Kinderkrippe schicken, wenn Frauen schwanger werden oder in der Illega-
lität entbinden müssen. Eine wirkliche Veränderung für Illegale kann es nur geben, wenn die Zu-
wanderung gesetzlich geregelt und ermöglicht wird, wenn es weitreichende Altfall- und Härte-
fallregelungen für AsylbewerberInnen und Bürgerkriegsflüchtlinge gibt und eine Legalisierungs-
kampagne wie in den meisten anderen westlichen Ländern durchgeführt wird. In Andersons Arbeit ist die Information des bayerischen Aktionsbündnisses gegen Abschiebehaft zu lesen:

Das NordSüdForum München stellt Philipp Andersons Studie im EineWeltHaus am 16. Oktober der Öffentlichkeit vor:
„Wussten Sie schon, dass …
… in Bayern abgelehnte Flüchtlinge ohne eine Straftat und ohne Verurteilung ins Gefängnis kom-
men?
… Abschiebungshaft lediglich stattfindet, um Verwaltungsvorschriften durchzusetzen?
… viele abgelehnte Flüchtlinge bis zu 18 Monate in Haft sitzen?
… Abschiebungshäftlinge nicht wissen. wie lange sie in Haft sein werden?
… sogar Minderjährige, Schwangere und psychisch Kranke in Abschiebungshaft sitzen?
… Abschiebungshäftlinge in Bayern häufig gemeinsam mit Straftätern in einer Zelle inhaftiert werden?
… Abschiebungshäftlinge oft wie Untersuchungs- und Strafhäftlinge behandelt werden? Das be-
deutet in der Regel:
 1 Stunde Hofgang am Tag
 23 Stunden täglich in der Zelle
 nur 1 Stunde Besuch im Monat
 keine Telefoniermöglichkeit
… Abschiebungshäftlinge zum Teil schlechter gestellt werden als inhaftierte Straftäter:
 keine Arbeitsmöglichkeit in der Haft
 weniger Gruppenangebote
 kein Anspruch auf Rechtsberatung“8

„Für den 20. November mobilisiert das bundesweite Karawane-Netzwerk zur Demonstration gegen die Bundesinnenminister-Konferenz (IMK) in Jena – die Konferenz, auf der zweimal jährlich die Innenminister der Bundesländer zentrale Entscheidungen über das Schicksal von MigrantInnen und Flüchtlingen in Deutschland beschließen. München organisiert die Pressearbeit und ist mit einer Reisegesellschaft von 50 Leuten – darunter viele TogoerInnen – vor Ort. Hauptlosung der lautstarken und kraftvollen Demonstration, die vor das Tagungshotel der Innenminister zieht: Ab-
schiebestopp! Am Ende empfangen die Minister eine Delegation, die unsere Forderungen persön-
lich überbringt. – Ab Dezember 2002 bis Mitte 2003 verhindern Karawane-AktivistInnen mit di-
rektem Druck gegen die ausführenden Fluggesellschaften eine Reihe von Abschiebungen – aber der vehemente Protest ist nicht immer erfolgreich. Auch AktivistInnen der Karawane geraten immer wieder unter den Druck drohender Abschiebung. Im November wird Patrice Bagna vom KVR aufgefordert, innerhalb einer Frist von wenigen Wochen das Land zu verlassen, ansonsten stünde ihm die gewaltsame Abschiebung nach Togo bevor. Ebenfalls betroffen ist der Exil-Togoer Bertrand Traoré. Getreu dem Selbstverständnis der Karawane, die eigenen Leute mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, wird eine Kampagne gegen das KVR gestartet. Das Motto lautet: „Abschie-
bung nach Togo ist Mord – Bleiberecht für Bertrand und Patrice!” Am 5. Dezember steigt eine spektakuläre Performance vor dem Portal des Kreisverwaltungsreferates: Etwa 20 Leute legen sich als Leichen verkleidet, Gesichter und T-Shirts mit Kunstblut beschmiert, auf die Stufen vor der Be-
hörde, darüber thronen die „Schreibtischtäter”. Leute von der Karawane, Vertreter togoischer Exil-
gruppen, und der Grünen-Stadtrat Siegfried Benker geben Interviews zur Lage in Togo und zur Situation togoischer Flüchtlinge.“9

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Performance vor dem Kreisverwaltungsreferat am 5. Dezember

Seit diesem Jahr kooperiert die Europäische Union mit dem libyschen Regime des Muammar al-Gaddafi, um afrikanische Flüchtlinge von ihren Außengrenzen fernzuhalten. Die EU nimmt dabei auch menschenunwürdige Zustände und Folter in libyschen Internierungslagern in Kauf, die zum Teil von ihr finanziert werden.


1 Karawane München – die ersten zehn Jahre, München 2008, 9.

2 Bürgerrechte & Polizei. Cilip 74, Nr. 1/2003, 94.

3 Siehe caravans „München: Brutale Abschiebung nach Togo“.

4 2011 „bietet“ das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jeden fünften Asylsuchenden in Deutschland einem anderen europäischen Land „an“ und wird sie damit los. Vgl. Refugio Report vom Juli 2012, 4 f.

5 Karawane München – die ersten zehn Jahre, München 2008, 20; siehe „vereinigung der togolesischen frauen“ von Andrea Naica-Loebell.

6 Foto: Andrea Naica-Loebell.

7 Vgl. Refugio Report vom November 2003, 10 f.

8 Philipp Andersons „Dass sie uns nicht vergessen …“ Menschen in der Illegalität in München. Eine empirische Studie im Auftrag der Landeshauptstadt München, München 2003, 18.6.2.

9 Karawane München – die ersten zehn Jahre, München 2008, 21.

10 Foto: Andrea Naica-Loebell