Flusslandschaft 1969

StudentInnen

Ein Grundsatzpapier beschreibt im Januar 1969 die Fraktionskämpfe innerhalb der Münchner Sektion des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und das Dilemma antiautoritärer Praxis des SDS: „Trotz der Entwicklungen des politischen Inhalts der Aktionen und ihrer Formen vom Protest gegen den imperialistischen Krieg der USA über den Kampf gegen die Herrschafts-
struktur in der Universität bis zum Osteraufstand blieben sie mehr oder weniger spontane Mas-
senaktionen, denen – wie sich dann besonders in den Antinotstandsaktionen zeigte – eines ge-
meinsam war: dass sie von wenigen Organisierten vorbereitet und theoretisch getragen wurden. Sie zeigten im Grunde genommen eine Bewegung, die antiautoritär war in einem vororganisa-
torischen Stadium. Sie brachen für einen großen Teil der Beteiligten spontan aus und waren fast ausnahmslos mit plebiszitären Mitteln reagierende Abwehraktionen gegen politische Maßnahmen der Herrschenden … Die wichtigste Aufgabe in der jetzigen Phase nach der Antinotstandskampag-
ne ist die Schulung und Organisierung der Unorganisierten in Basisgruppen auf der Universität und in Betriebs-Wohnungs-Basisgruppen in den einzelnen Stadtteilen.“1 So entstehen aus dem Münchner SDS heraus 1.) die Hochschulprojektgruppe für die Studentenschaft, 2.) die „Münchner Projektgruppe“ für Arbeit außerhalb der Hochschule mit der Zielgruppe Industriearbeiter, die Keimzelle der Arbeiter-Basisgruppen, 3.) die Projektgruppe, die sich der antiimperialistischen Öffentlichkeitsarbeit widmet.

„Am 15.1. beschließt die Studentenvollversammlung, sich auf Donnerstag, den 23.1. zu vertagen. Für diesen Zeitpunkt war eine Senatssitzung angekündigt worden, über deren Verlauf die studenti-
schen Senatssprecher der VV berichten sollten. Dem Senat sollen folgende Anträge vorgelegt wer-
den: a.) prinzipielle Öffentlichkeit der Sitzungen b.) Stellungnahme des Senats zu den Punkten Hausrecht, Polizei an der Uni, der Fall Prof. Betz. Die Senatssitzung und deshalb auch die VV wer-
den auf den 30.1. vertagt. – Donnerstag, 30.1.: VV und Senatssitzung beginnen gleichzeitig. Die beiden studentischen Senatssprecher betreten die Sitzung mit laufendem Tonband und fordern Öffentlichkeit. Rektor Scheuermann lehnt ab. Nach kurzer Diskussion beschließt der Senat sich zu vertagen, die VV wird darüber informiert. Sie vertagt sich auf den Gang vor den Rektoratsräumen, um mit den Professoren über die geforderte Öffentlichkeit zu diskutieren. Die Hälfte der Professo-
ren hat inzwischen das Rektorat verlassen, die übrigen schließen sich ein. – Lesczinsky fordert nach Beschluss der anwesenden Studenten von Scheuermann eine Stellungnahme zu seinem Ver-
halten während der Senatssitzung. Syndikus Schattenfroh erklärt sich bereit, das Verhandlungs-
angebot weiterzugeben. Scheuermann: Grundsätzlich sei er zwar bereit, mit den Studenten zu re-
den, lehne aber heute eine Diskussion ab. Asta Wagner wird beauftragt, dem Rektor folgendes vor-
zuschlagen: Sicherheit der Professoren wird zugesichert, in der Aula findet sofort eine Diskussion statt, auf der Rektor Stellung beziehen soll. Weitere Professoren verlassen inzwischen durch einen Nebenausgang die Uni. Wagner kommt mit der gleichen Antwort wie Schattenfroh zurück. Nach längerer Diskussion und mehrmaliger Abstimmung wird beschlossen, die Senatsräume zu beset-
zen. Ein Türflügel wird ausgehoben. 300 Studenten besetzen diszipliniert die Räume und versu-
chen mit den Ordinarien zu diskutieren. Diese lehnen ab. Polizei taucht auf. Scheuermann verneint sie gerufen zu haben. Die Polizei verschwindet wieder. – Um 20.00 Uhr wird die Konventssitzung aus der Mensa in das Rektorat verlegt. Der Konvent tagt dort bis 22.30 Uhr. Nach einer einstündi-
gen Debatte über Sinn und Zweck eines längeren Verbleibens im Rektorat, wird beschlossen, die Uni zu räumen und die Diskussion im AStA-Haus fortzusetzen. – DIE SENATSBESETZUNG WAR NOTWENDIG, um zu zeigen, dass es in der Universität keine heiligen Hallen gibt, um Symbole einer überflüssigen Herrschaft zu beseitigen, um den Widerstand gegen formale Interpretationen einer antiquierten Satzung (vom 14. Nov. 1968) zu dokumentieren. Aber: Eine symbolische Macht-
ergreifung kann nicht Ziel, sondern muss der Anfang sein, dass die Studenten sich gegen eine Ver-
waltung auflehnen, die bestimmt, was sie wollen sollen. – Voraussetzung dafür ist in jedem Fall Öffentlichkeit, weil die eigentlich Betroffenen sonst nicht erfahren, wie Beschlüsse über sie zustan-
de kommen, der begründete Verdacht besteht, dass die an den Senat gestellten studentischen For-
derungen mit Scheinargumenten formaler Art abgetan werden, die Studentenvertreter im Senat nicht Beobachter sind, sondern MITGLIEDER dieses Gremiums, die genauso kontrollbedürftig sind wie alle anderen. Wir müssen deshalb diese Probleme in alle Vorlesungen tragen, in Übungen und Seminaren diskutieren, um das vorzubereiten, was weiter geschehen muss … WIR FORDERN: Öffentlichkeit aller Senats- und Fakultätssitzungen und angemessene Beteiligung in allen Gremien. – Verantwortlich: Fachschaften Staatswirtschaftliche Fakultät, Franz Eggersdorfer, Sibylle Ohm, Ulrich Nies.“2

Studierende des Instituts für Zeitungswissenschaft besetzen am 11. Februar das im Amerikahaus untergebrachte Institut in der Maxvorstadt und erklärten es zum ersten befreiten Institut der Uni-
versität München mit dem Namen „Bahman-Nirumand-Institut“.3

„Politik beim Chirurgentag – Nach APO-Angriffen verzichtete Prof. Maurer auf den Vorsitz. K.St. – Proteste von Studenten und Assistenzärzten haben die Neuwahlen zum Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie beeinflusst. Statt des Münchner Dekans Maurer wurde der Hamburger Chefarzt Prof. Otto Lindenschmidt zum Vorsitzenden der Gesellschaft gewählt, die ihre 86. Jahres-
tagung am Wochenende in München abschloss. Favorit Maurer hatte im ersten Wahlgang nur 194 von 469 Stimmen erhalten. Er verzichtete daraufhin auf die Kandidatur, ‚um die Gesellschaft nicht zu belasten’. – In Flugblättern und Dokumentationen hatte der Allgemeine Studentenausschuss und der Assistentenkonvent der Universität München seit Beginn des Chirurgentags die ‚Persön-
lichkeitsstruktur’ des Kandidaten Professor Dr. Georg Maurer (60) durchleuchtet. Als Dekan der zweiten medizinischen Fakultät habe er ‚mit den Mitteln öffentlicher falscher und diffamierender Anschuldigungen in unverantwortlicher Weise Repressionen ausgeübt’. Dies soll sich insbesondere gegen einen Assistenzarzt seines Klinikums, der auf Mitbestimmung gedrängt hatte, gerichtet haben. Gleichzeitig äußerte sich der Münchner Personalreferent bestürzt über einen erst jetzt bekannt gewordenen Drohbrief des CSU-Stadtrats Maurer an eine seiner Oberärztinnen, die der SPD beigetreten war. — ‚Wir sind eine wissenschaftliche Vereinigung und wollen uns nicht mit politischen Angelegenheiten befassen’, reagierte der bisherige Präsident Prof. Dr. Karl Voßschulte auf die Vorwürfe. Deshalb gingen die versammelten Chirurgen auch nicht auf die Forderung der Studenten ein, vor der Neuwahl eine Personaldebatte zu veranstalten. Das Wahlergebnis zeigte jedoch, dass sich die ‚medizinische APO’ im Kongreßsaal durchaus Gehör verschaffen konnte.“4

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Im Juni protestieren Studierende der Soziologie gegen einen Immatrikulationsstopp. Auf ein Transparent, das für den Lichthof der Uni bestimmt ist, schreiben sie: „Die Zerschlagung der Soziologie soll heute beginnen. Heute beschließt Senat Immatrikulationsstopp. Die Kapazität des Soziologischen Instituts ist überlastet. Die Mittel für Forschung und Lehre werden verweigert. Das bisschen Vorhandene wird feudalistisch und unkontrolliert verschleudert. Unser System braucht keine kritischen Soziologen. Deshalb sind die geplanten Abhilfemaßnahmen nichts anderes als die endgültige Abwürgung der So …“

Am 19. Juni streiken über dreißigtausend Studierende gegen das geplante neue Hochschulgesetz. Vier Demonstrationskolonnen ziehen zum Königsplatz.6 Innerhalb der studentischen Aktivistin-
nen und Aktivisten kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen. Die einen meinen, es sei legitim und reiche aus, sich für die Durchsetzung eigener Interessen zu engagieren, die anderen sagen, der Gruppenegoismus verweise lediglich auf ständische Traditionen; eine politische Per-
spektive weise über den Tellerrand hinaus. Sie berufen sich da u.a. auch auf Ernst Bloch. Dieser differenziert aber weiter.7 30 Germanistik-Kommilitoninnen und Kommilitonen, die sich am aktiven Streik beteiligt haben, erhalten eine Strafanzeige.

Am Freitag, 4. Juli, zeigt das POFO-Straßentheater, eine Wohngemeinschaft von fünfzehn Studie-
renden und Arbeiterinnen und Arbeitern, mehrere Aufführungen mit agitatorischem Inhalt auf dem Geschwister-Scholl-Platz. Sie warnen vor dem neuen Hochschulgesetz: „Lasst euch nicht einwickeln.“8 Am Donnerstag, 10. Juli, wollen sie in der Uni eine Gustav-Gans-Statue enthüllen und die erwürdige alma mater in „Gustav-Gans-Universität“ umbenennen.

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Während der Semesterferien erfährt Dr. Gerhard Völker, dass sein Lehrauftrag am Seminar für Deutsche Philologie II nach 6-jähriger Tätigkeit nicht mehr verlängert wird. Völker ist von der üblichen Seminarpraxis abgewichen, hat kritische Inhalte zur Sprache gebracht, hat gegen die Entlassung des Kollegen Dr. Weiland, eines Vertreters der materialistischen Literaturwissenschaft, protestiert und sich für einen paritätisch besetzten Institutsrat und für Mitbestimmung der Stu-
dierenden ausgesprochen.10

Am 7. Oktober demonstrieren Studierende gegen Kultusminister Ludwig Huber.11

3. November: Erneute Kundgebung des Oskar-von-Miller-Polytechnikums gegen den Fachhoch-
schulgesetz-Entwurf von Kultusminister Huber.12

6. November: Vorlesungsstörungen in der Uni.13

7. November „Anti-Huber-Tag“: GymnasiastInnen und Studierende protestieren gegen Kultus-
minister Huber.14

Die Vergangenheit lebt von der Zurichtung der Personen, um sie zum fraglosen Funktionieren zu bringen. Der neue Ansatz lautet: Stärkung des Eigensinns mit dem Ziel, als autonome Subjekte sich und die Gesellschaft zu emanzipieren. Im Wintersemester 1969/70 beschäftigt sich am Münchner Institut für Pädagogik II ein Seminar mit Überlegungen „über Funktion und Stellung der Schule in unserer Gesellschaft. Die Autoren kennzeichnen sie als eine Institution, die nach dem Klassenprinzip aufgebaut ist, als Verteilerin sozialer Chancen eine Monopolstellung innehat und somit die Macht besitzt, jedes Individuum dieser Gesellschaft einem entfremdenden, weil fremd-
bestimmten Lernen zu unterwerfen. Wie sehr die Schule den Schülern die eigene kritische Reflexi-
on und eine lernende Selbstbestimmung unmöglich mache, zeige sich noch bei den Studenten, die die an der Universität geforderte Selbständigkeit meist gar nicht aufbringen könnten … Selbstän-
digkeit könne nur in der Kommunikation mit anderen entwickelt werden, wofür die Gruppenpä-
dagogik einen sinnvollen Ansatz biete. Die Studentengruppe, die sich zu einer streng sachbezoge-
nen Arbeit zusammengefunden hat (Erarbeitung eines Gruppenbegriffs anhand der Literatur, Auffinden von Kriterien für eine effektive Gruppenarbeit), muss allerdings bald die Erfahrung machen, dass sie die in ihr selber ständig ablaufenden gruppendynamischen Prozesse nicht einfach unbeachtet lassen kann. Mehr und mehr wird sie sich selbst zum Gegenstand des Interesses. Af-
fektive Spannungen, versteckte Angst, Unsicherheit, Leistungsstreben, Unklarheit über Rolle und Position der einzelnen Mitglieder, Sympathien und Antipathien, Orientierungsschwierigkeiten und Selbstüberforderung (indem man sich über Spannung und Problematik ,durch eine selbstgestellte Überfülle an Arbeit hinwegzutäuschen’ versucht) – all das sind Konfliktpunkte, die heute überall auftreten, wo Menschen zusammen etwas tun. Im üblichen autoritär strukturierten Lernbetrieb tauchen sie nur deshalb nicht auf, weil sie – als ‚nicht dazugehörig‘ – ständig und kollektiv ver-
drängt werden. Dabei ist es für den Lernprozess notwendig, dass Konflikte bewusst gemacht und Lösungsmöglichkeiten gemeinsam gesucht werden. Unsicher in ihren eigenen Suchbewegungen nach Lösung der auftretenden Schwierigkeiten, kann die Seminargruppe zwar nicht verhindern, dass sie mit der Zeit fast die Hälfte ihrer Mitglieder verliert; sie kann aber schließlich doch mit Recht von der beispiellosen Möglichkeit sprechen, die mit der autoritätsfreien, sich selbst bestim-
menden Gruppe gegeben ist: der Möglichkeit nämlich, ‚kreative Arbeitsprozesse über lange Zeit zu führen, in denen der Einzelne die Verunsicherung, die durch die Vereinzelung bedingt ist, über-
winden lernt‘. Der exemplarische Lern- und Erfahrungsprozess dieser Gruppe wird mit Protokol-
len über den inhaltlichen Verlauf wie über das gruppendynamische Geschehen anschaulich be-
legt.“15

(zuletzt geändert am 17.10.2020)


1 Organisierung der Unorganisierten. Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

2 Flugblatt, handschriftlich vermerkt: 31.1.69, Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

3 Bahman Nirumand, deutsch-iranischer Publizist, geboren 1936 in Teheran, lebt seit vielen Jahren im Exil in Deutschland. Sein Buch Persien — Modell eines Entwicklungslandes oder Die Diktatur der freien Welt erschien 1967 und hat großen Einfluss auf die Studentenbewegung. Nirumand war Mitinitiator der Anti-Schah-Demonstration, auf der am 2. Juni 1967 in Berlin der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde. Siehe „Revolte oder Happening?“ von Markus Behmer und „Sie wussten nichts vom Ozonloch“ von Hans Pfitzinger.

4 apo press. Informationsdienst für die Außerparlamentarische Opposition 13/II vom 16. April 1969, 9. Fotos von Dimitri Soulas, Fotomuseum.

5 Foto: Günther Wegener

6 Fotos: Stadtarchiv Standort Rudi Dix-Archiv. Mappe 076 W und Fotos von Dimitri Soulas, Fotomuseum.

7 Siehe „Der rechte Schmied“ von Ernst Bloch.

8 Fotos: Stadtarchiv Standort Rudi Dix-Archiv, Mappe 076 X.

9 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

10 Siehe Sabine Koloch (Hg.), 1968 in der deutschen Literaturwissenschaft, https://literaturkritik.de/1968-deutschen-literaturwissenschaft-einer-sabine-koloch-herausgegebenen-sonderausgabe-literaturkritikde,24689.html

11 Fotos von Dimitri Soulas, Fotomuseum

12 Vgl. Süddeutsche Zeitung 264/1969.

13 Vgl. Abendzeitung 260/1969.

14 Vgl. Süddeutsche Zeitung 268/1969. Stadtarchiv, Zeitgeschichtliche Sammlung 516/14^und Fotos: Stadtarchiv Standort Rudi Dix-Archiv. Mappe 076 Y.

15 Münchner Autorenkollektiv (Berg, Höchstetter, Jander, Schorb): Gruppenarbeit – Theorie und Erfahrung. Bericht über ein studentisches Seminar, in: Hans-Werner Saß (Hg.), Antiautoritäre Erziehung oder Erziehung der Erzieher. Soziales Lernen in Erwachsenengruppen, Stuttgart 1972, 82.