Flusslandschaft 1971

Frauen

Im April erscheint im Le Nouvel Observateur, initiiert vom Mouvement de libération des femmes (MLF), eine Erklärung von 343 Französinnen „Wir haben abgetrieben, und wir fordern das Recht auf freie Abtreibung für jede Frau“. „Der Zufall spielte eine Rolle dabei, dass die Aktion so rasch und so zündend in die benachbarte Bundesrepublik importiert wurde: Alice Schwarzer, damals Korrespondentin in Paris und selbst aktiv im MLF, transportierte die Idee zu den deutschen Schwestern. Nun galt es Frauen zu finden, die mitmachten. Da es in Deutschland noch keine Frauengruppe gab, die, wie die Pariserinnen, die Aktion zentral hätte tragen können, klopfte Alice an viele Türen, inklusive SPD-, DKP- und Gewerkschaftsfrauen – alle lehnten ab. Argument: ‚Eine solche Aktion würde uns nur schaden, das wirkt unseriös’ oder: ‚Das würde die Basis schockieren’. Von den landesweit nur noch vier existierenden Frauengruppen der 68er Bewegung waren drei bereit mitzumachen: in Frankfurt die liberale ‚Frauenaktion 70’, in Berlin der ‚Sozialistische Frauenbund Berlin’ und in München die ‚Roten Frauen’ … Die drei Frauengruppen brachten innerhalb weniger Wochen etwa die Hälfte der 374 Unterschriften zusammen, den Rest bekam Alice Schwarzer durchs Schneeballsystem zustande: Eine Frau erzählte es der anderen, Freun-
dinnen, Kolleginnen, Nachbarinnen überlegten gemeinsam.“1

Alice Schwarzer: „Die Veröffentlichung des Abtreibungsmanifestes wurde zum Auslöser einer La-
wine – und die zum Auslöser der Frauenbewegung. Zuvor hatten nur noch rudimentäre Reste des Frauenprotestes innerhalb der Studentenbewegung existiert. Wie der ‚Weiberrat’ in Frankfurt, der noch immer ‚Kapitalschulungen’ machte und mich, die Botin aus Frankreich beschied, er mache bei dieser ‚kleinbürgerlichen’ und ‚reaktionären’ Abtreibungsaktion auf keinen Fall mit. Oder die ‚Roten Frauen’ in München, die auch schon mal Bakunin lesen durften, und bei der Diskussion über meinen aus Frankreich importierten Vorschlag noch am selben Abend in zwei Teile zerfielen: die einen machten weiter Kapitalschulungen, die anderen machten mit bei der ‚Aktion 218’ (gegen den § 218). Und der ‚Demokratische Frauenbund Westberlin’ (ein Ableger der SEW, der Berliner DKP), der zwar die Reihen stramm geschlossen hielt, die Aktion jedoch als geeignet befand zur ‚Agitation des Proletariats’ und mir eine Reihe Unterschriften mit strikten politischen Auflagen überließ. Die einzigen, die die ‚Aktion 218’ als Gruppe mittrugen, war die ‚Frauenaktion 70’ in Frankfurt, ein Häuflein Frauen aus SPD und FDP, die schon in den Monaten zuvor tapfer und allein gegen den § 218 protestiert hatten.“2

Am 6. Juni erscheint der Stern mit der Erklärung der 374 Frauen, unter ihnen auch Münchnerin-
nen, „Wir haben abgetrieben! Wir fordern keine Almosen vom Gesetzgeber und keine Reform auf Raten! Wir fordern die ersatzlose Streichung des § 218!“. Es beginnt vor allem in Berlin und Mün-
chen die Aktion 218; Unterschriften gegen den § 218 werden gesammelt, Demonstrationen organi-
siert.

Als erste etablierte Organisation fordert die Humanistische Union 1971 in ihrer Broschüre Gegen den § 218 die Fristenregelung, die 1975 Gesetz wird.

Im „Kommentar der Woche“ meint der Konservative Winfried Martini am 20. Juni im Bayerischen Rundfunk: „… Formel, die Frau dürfe über ihren eigenen Körper verfügen, ist kein Argument gegen ein Verbot der Abtreibung: denn wieso ist der Embryo ,ihr eigener Körper’? Gewiss ist es unge-
recht, wenn wohlhabende Frauen keine Schwierigkeiten haben, einen willigen Arzt zu bezahlen, während andere Pfuscher aufsuchen und die damit verbundenen Risiken eingehen müssen. Aber Ungerechtigkeit gibt es in allen Bereichen, sie gehört zum Wesen dieser Welt …“3

„Diese ersten Wochen und Monate nach dem 6. Juni 1971 waren einfach mitreißend. Die Buchhän-
dlerin Ute Geißler aus München: ‚Als ich die Selbstbezichtigung unterschrieb, hatte ich noch mäch-
tig Angst. Und dann, als wir ein paar Wochen später morgens um sechs diese Hausdurchsuchung hatten, da war klar: Wir würden uns nicht mehr einschüchtern lassen.’ Nacht-und-Nebel-Aktionen der Polizei, wie die in München, wo eine Razzia gemacht wurde, schwächten die Aktion 218 nicht, sondern stärkten sie eher. Sie brachten eine Welle der Sympathie. Und – eine weitere Welle von Hilfe suchenden Frauen. Damit standen die Aktivistinnen der ‚Aktion 218’ erst einmal ganz allein da: mit den Tausenden von Frauen, die Rat und Abtreibungsadressen brauchten. Einziger Ausweg: die Illegalität im eigenen Land oder die Reise ins Ausland. Die ersten Kontakte mit dem Ausland wurden geknüpft. Am 20. November 1971 gingen in fast allen Ländern der westlichen Welt Frauen auf die Straße: für das Recht auf Abtreibung und für die Selbstbestimmung der Frau! Allein in Paris demonstrierten 4.000, darunter Simone de Beauvoir.“4

Über tausend Frauen und Männer, unter ihnen die Rote Frauenfront München, ziehen mit Trans-
parenten am 6. November von der Münchner Uni zur Feldherrnhalle. Diese erste feministische Demonstration in München protestiert vor allem gegen den § 218.5 Der Kampf gegen den § 218 wird zum Auslöser der neuen Frauenbewegung. — In Frankfurt erscheint Anton Andreas Guhas Schrift „Sexualität und Pornographie. Die organisierte Entmündigung“.

Am 14. Dezember gründet die Soziologin Hannelore Mabry, Autorin von „Unkraut im Parlament“ und in Großhadern beheimatet, mit elf weiteren Frauen das Frauenforum München, in dem auch Männer, die das Patriarchat abschaffen wollen, Mitglieder werden können. Zuerst wollen sie sich „Frauen für Frauen“ (FFF) nennen, beschließen aber dann einen Namen, der sich am Kölner „Frauenforum“, der bisher größten Organisation, anlehnt. Nach einem halben Jahr zählt die Gruppe sechzig Mitglieder.


1 Die Jahre 1971 bis 1975. So fing es an!, www.emma.de/hefte/ausgaben-2001/maijuni-2001/so-fing-es-an-2001-03/

2 Alice Schwarzer: „Mein persönliches 68“ in: Emma 3/2008, www.emma.de/hefte/ausgaben-2008/emma-das-heft-2008-3/mein-68-2008-30/

3 Zit. in: Die Deutschlandstiftung – rechte Apo von Dregger und Strauß? unter Mitarbeit von Hella Schlumberger mit einem Vorwort von Prof. Walter Jens, Schriftenreihe des „Pressedienst Demokratische Initiative“ 20, Wuppertal 1974, 60.

4 Die Jahre 1971 bis 1975. So fing es an!, www.emma.de/hefte/ausgaben-2001/maijuni-2001/so-fing-es-an-2001-03/

5 Fotos von Dimitri Soulas, Fotomuseum.