Flusslandschaft 1992
Armut
… Januar, „Randzone – Obdachlosigkeit in München. Fotografien von Michael Peukert“, Ausstellung in der Seidlvilla in Schwabing …
Jeder zehnte Westdeutsche ist arm. Früher waren es in erster Linie Alte, Witwen und Obdachlose, heute sind es auch Dauerarbeitslose, alleinerziehende Mütter und Väter und unausgebildete Jugendliche.
„… In den Großstädten reichen oft schon Halbtagsjobs und untere Lohngruppen, um die Fürsorge anzapfen zu müssen: Explodierende Mieten und hohe Lebenshaltungskosten gehen leicht an die Substanz und stürzen immer breitere Bevölkerungsgruppen in existentielle Nöte. In München ist die Anzahl der Armen innerhalb von drei Jahren um 46 Prozent explodiert. Nach einer aktuellen Untersuchung des städtischen Sozialhilfereferates bilden in der bayerischen Landeshauptstadt etwa 120.000 Menschen das ,Armutspotential’. Das bedeutet: von 1.000 Münchenern sind 96 arm. Vor allem hohe Mieten, sagt der Armutsbericht, sind schuld daran sowie unzulängliche Siche-
rungssysteme, die ,nicht mehr greifen’. Besonders alarmierend ist der Trend, dass immer mehr Kinder und Jugendliche in ärmlichen Verhältnissen aufwachsen müssen. ,Kinder’, warnt der Münchener Armutsbericht, ‚sind die traurigen Rekordhalter unter den Empfängern von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt.’ Insgesamt wurden an der Isar 10.600 Kinder registriert, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Und 1.267 sind obdachlos! …
Die Ernährungsgewohnheiten der armen Leute in der Bundesrepublik sind eine erschreckende Karikatur auf die westdeutsche Fettlebe. ,Die Hauptmahlzeiten der allermeisten Sozialhilfe-
empfänger am Ende des Monats’, fand der Frankfurter Sozialwissenschaftler Rainer Roth jetzt
bei einer Befragung von rund 200 Sozialhilfehaushalten raus, ,bewegen sich stark auf die bloße Nahrungszufuhr fürs physische Überleben zu.’ …
Ein 45jähriger Sozialhilfeempfänger beispielsweise gab ,Toastbrot mit Ketchup oder Marmelade’ als Hauptmahlzeit an, ,Gras-Spinat, geklaute Kartoffeln’ helfen einem 50jährigen über die Runde; andere begnügen sich mit ,verfaultem Gemüse’ oder ,essen bei Oma, das spart Geld’. Roths Studie belegt, wie unwürdig und unmenschlich die Sozialhilfesätze sind: Im Schnitt stehen einem Erwachsenen seit dem 1. Juli monatlich 511 Mark zu. Der Satz beruht auf dem sogenannten Statistikmodell, dem Verbraucherdaten des Statistischen Bundesamtes zugrunde liegen. Das System hat allerdings einen Haken – die Daten orientieren sich an einer Einkommensgruppe, der vorwiegend Frauen über 70 angehören. So werden alle Sozialhilfeempfänger über einen Kamm geschoren. Dieses Modell, so der DGB, ist ,weniger von fachlichen als von finanziellen Überlegungen geleitet’.
Die letzte Stufe dieser finanziellen Sichtweisen hat die Ministerpräsidentenkonferenz gerade praktiziert. Ab Juli wird der Mehrbedarf für alte Menschen erst ab 65 Jahren gezahlt – bisher gab’s den Zuschlag schon ab 60. Kein Wunder, dass ,Schnorren, Schuldenmachen, Schwarzarbeit oder Diebstahl’ die ,bisher in diesem Ausmaß nicht vermutete Selbsthilfe von Sozialhilfeempfängern’ auslöst, wie Roth feststellt. Ursula Engelen-Kefer vermutet dahinter System: ,Wer arm ist, soll arm bleiben. Und wer in der Nachbarschaft der Armut lebt, soll Angst haben, es zu werden.’“1
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In der Tumblingerstraße
1 Fritz Arndt: „Toastbrot mit Ketchup – Wachsende Armut in West- und Ostdeutschland“ In: Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 18 vom 4. September 1992, 12 f.
2 Foto © Volker Derlath