Materialien 1976

Über die Herstellung politischer Verbrecher

Das Staunen – also die Ahnungslosigkeit – über die Mechanismen, die einen biede-
ren Hausvater in einen Mörder verwandeln, gehört zu den Mechanismen, die einen biederen Hausvater in einen Mörder verwandeln.

Keiner springt auf vom Gedichtemachen und sticht einem ihm fremden Menschen ein Messer in den Körper ohne sorgfältige Vorbereitung seines Gehirns über Jahre. Der politische Verbrecher entsteht durch Zeitungen, Bücher, Rundfunk und Fernsehen. Es gibt keinen politischen Mord ohne intellektuelle Beihilfe.

Wenn Zeitungen solche Gefährlichkeit annehmen können, daß Menschen nach deren Lektüre ein-
ander industriell in Stücke hacken, muß man, sofern man am Leben hängt, fragen: können Zeitun-
gen auch heute so gefährlich sein? Gibt es eine Gruppe von Personen, die zu ermorden unsere Zei-
tungen erlauben? Es scheint, daß es sie gibt. Machen unsere Meinungsmacher auch heute eine Mo-
ral, die wir eines Tages als verwerflich erkennen? Es scheint so.

In Frankfurt warfen unbekannte Demonstranten einen Molotowcocktail in ein Polizeiauto. Sie sol-
len wegen „versuchten Mordes“ angeklagt werden, nicht wegen Totschlags oder fahrläsiger Tötung. Auch die Zeitungen nannten den Wurf „Mordversuch“. Ein Westdeutscher fuhr mit einer gelade-
nen Pistole in die DDR und schoß mehrere Male auf DDR-Grenzsoldaten, als sie entdeckten, daß sich in seinem Auto eine Bürgerin der DDR versteckt hatte. Ein Soldat wurde schwer verletzt. In der Berichterstattung nannte der Nachrichtensprecher der „Tageschau“ am 30. Juli 1976 diesen Vorgang: „Es kam zu einer Schießerei.“ Als der Kriminalbeamte Kurras den Studenten Ohnesorg erschoß, schrieb eine Zeitung: „Aus der Pistole löste sich ein Schuß“, die Pistole war schuldig.

Die Erlaubnis, andere aus politischen Gründen umzubringen, beginnt nicht mit der offenen Auffor-
derung zum Mord, sie beginnt mit dem Schwächerwerden öffentlichen Zorns. ln dem Grad, in dem die Verurteilung leiser wird, wird sie zur Duldung, dann zur Erlaubnis. Was zu tun erlaubt ist, kann schließlich befohlen werden.

Vor einigen Jahren ermordete ein westberliner Polizist einen Autodieb durch Genickschuß. Er han-
delte nicht in Notwehr: zwei Taxifahrer hielten den Mann fest, bis der Polizist gezielt und abge-
drückt hatte. Es ist nicht bekanntgeworden, dass die drei jemals wegen Mordes angeklagt worden wären.

Unsere moralische Empfindlichkeit entsteht durch die gedruckten und ausgestrahlten Urteile. Bei einer Flugzeugentführung aus der Sowjetunion erschossen die Entführer einen Piloten, um in die Türkei zu kommen. Kein Redakteur bürgerlicher Zeitungen wagte von Mord zu schreiben: er hätte riskiert, als Sympathisant von Kommunisten zu gelten. Das wäre für sein Fortkommen gefährlicher gewesen als den Mord zu billigen. Der Erlaubnis für politischen Mord geht die Mißbilligung mora-
lischer Entrüstung voraus.

Wer um seine Stellung fürchten muß, muß vielleicht bald um sein Leben fürchten, solange die starre Verbindung zwischen politischer Moral und den Gewinnkurven der Konzerne nicht gelöst wird. Wem man die freie Wahl des Berufes verbietet, den macht man zu einem Menschen zweiter Klasse. Der Mord an einem Degradierten löst nicht dieselbe Empörung aus – und damit denselben Schutz – wie der Mord an einem Richter. Die Mattigkeit der Empörung richtet sich gegen das Opfer.

Während der zweiten Junihälfte dieses Jahres verging kein Tag ohne Meldungen über die Folgen eines Gasausbruchs aus einer chemischen Fabrik in der Nähe Mailands. Vieh starb, der Boden ist unbrauchbar, eine Frau starb, mehrere Menschen erkrankten, Nahrungsmittel verdarben. Den schwangeren Frauen wurde die Abtreibung freigestellt, weil man erwartete, daß sie Krüppel auf die Welt bringen. Die Bewohner zweier Dörfer wurden evakuiert, ihre Wohngebiete mit Stacheldraht abgesperrt, die Polizei hatte Schießerlaubnis, um die Bewohner von der vergifteten Zone fernzuhal-
ten.

Zusammen mit diesen Tatsachen erfuhren wir, dass das Gift von den Amerikanern in Vietnam aus Flugzeugen gestreut wurde, um die Bäume zu entlauben. Während des Vietnamkrieges berichteten unsere Zeitungen ausführlich von der Entlaubung des Dschungels. Es hat damals niemand von der Gefährlichkeit des Giftes für Menschen zu uns gesagt. Nach dem Lesen der Berichte mußte man glauben, das Entlaubungsmittel sei harmlos. Solange das Gift kompakt auf Asiaten und Kommu-
nisten gestreut wurde, galt es als harmlos, als es als Gaswolke zwei Dörfer von Mitteleuropäern streifte, wurde es tödlich für Mensch und Tier. Jetzt hören wir, dass die italienischen Behörden nordvietnamesische Kommunisten als Entgiftungsexperten zu Hilfe gerufen haben.

Jahre später erfahren wir durch eine Panne, dass die Produzenten des öffentlichen Gewissens eines der schwersten Kriegsverbrechen dieses Jahrhunderts gedeckt und gebilligt haben. Nun könnten sie nachdrücklich sich empören, hingerissen durch die nahen Bilder der chemischen Wirkung. Nichts rührt sich. Ihre moralische Empfindlichkeit versagt – und damit unsere moralische Emp-
findlichkeit, denn sie sind es, die unsere politische Moral machen.

Wer glaubt, das sei reine Müdigkeit, der erinnere sich, welche riesigen Anstrengungen sie auf sich nehmen, um uns empfindlich zu machen gegen Schüsse von DDR-Grenzsoldaten. Dieses Müdesein ist eine vorsichtige Erlaubnis, vietnamesische Kommunisten oder deren Verbündete durch chemi-
sches Gift umzubringen. Es ist dasselbe Müdesein, unter dessen Wärme die Bestialitäten von Auschwitz gediehen sind.

VORGESTERN

„Nicht jeder Kriminelle ist ein Kommunist, aber jeder Kommunist ist ein Krimineller.“ (Dr. Joseph Goebbels im „Angriff“ – vor 1933)

GESTERN

„Zwischen kriminellen und politischen Gangstern ist nicht der geringste Unterschied, sie sind alle miteinander Verbrecher. Und wenn wir hinkommen und räumen so auf, dass bis zum Rest dieses Jahrhunderts von diesen Banditen keiner es mehr wagt, in Deutschland das Maul aufzumachen.“ (Dr. Franz Josef Strauss in Sonthofen – nach 1933)

und HEUTE … !

Die regelmäßig treuherzig aus dem Schirm Blickenden und Sprechenden gewöhnen ihr Publikum allmählich daran, dass es anständig ist, einer bestimmten Gruppe von Menschen den Schutz zu entziehen. Wer verstehen will, wie man aus Gemüsehändlern faschistische Totschläger macht, der braucht sich nur die tägliche Arbeit unserer höchstbezahlten Intellektuellen näher anzusehen. Sie stellen die westdeutschen politischen Verbrecher von morgen her, wie ihre Vorgänger der zwanzi-
ger und dreißiger Jahre Nazis hergestellt haben, in täglicher Kleinarbeit über viele Jahre, mit der Geduld, wie sie aus überhöhten Honoraren kommt.

E.A. Rauter


Ramma damma. Zeitung der Initiative Bayerischer Kulturschaffender zur Wahl der DKP bei den Bundestagswahlen am 3.10.76, München 1976, 8.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Medien