Materialien 1995
Geschichte von unten
Mit erhobenem Zeigefinger deutet die männliche Koryphäe der Stadtgeschichte zu einem Haus in Schwabing hin: „Hier, meine Damen und Herren, wohnte der Maler Soundso von dann bis dann –“ Weiter geht’s trab-trab, im Rücken das Häuflein Bildungsbeflissener, zu einem völlig unscheinba-
ren Gebäude, in dem der Unglücksrabe Lenin von dann bis dann mal gehaust haben sollte. Wieder saugen die Wissensdurstigen den edlen Stoff Geschichte, d.en ihnen der kluge Zeigefinger weist, gierig in sich hinein. Aber wo bleiben die Daten der „kleinen“ Leute, ohne die Geschichte gar nicht machbar wäre? Eine alternative Stadtführung könnte etwa so lauten:
„Hier, meine Damen und Herren, erblicken Sie noch jämmerliche sechs übriggebliebene Kastanien des Oberangers, der Wohnstätte ,kleiner’ Leute, denen vor rund 70 Jahren gar oft der Magen knurrte, die bunt gestopfte Strümpfe anhatten und ein Schusserloch neben der Kastanie Nr. 17 besaßen nebst einem Vater, der bei Anbruch der Dämmerung in langer Pelerine und Schlapphut von Laterne zu Laterne ging und deren Gasglühstrumpf mittels eines langen Stangerls entzündete. Meine Damen und Herren, nichts glich diesem Licht, das das Laub smaragden färbte und den Schnee in seiner magischen Aura bläulich. Das war Poesie, das war das Licht, das die Nacht zum Geheimnis machte.
Und hier, meine Damen und Herren, müssen Sie sich den Gemischtwarenladen der Zenta Zigltrum denken, aus dem ein etwa zehnjähriges Mäderl an einem stürmischen, naßkalten Herbstabend ein Bündel Holz, vor der Tür gelagert, ohne Bezahlung mitgehen ließ, damit ihr kleiner Bruder daheim nicht mehr fror. Hier rechterhand könnten Sie sich mit einiger Phantasie zwei weibliche Wesen vorgerückteren Alters vorstellen, das eine mit einem respektablen Kropf und einer grünen Gieß-
kanne, mit der es dreimal die Woche zum Ostfriedhof pilgerte, um da das Grab ihres entschlafenen Gatten, des Trambahnschaffners in Rente, Beppi Bormeisl, zu gießen. Die zweite Dame schrieb sich Annamirl Augenwein, bewaffnet mit ,Schauferl und Beserl’, mit denen sie die Roßbollen zu-
sammenkehrte, die die noch reichlich vorhandenen Pferdl hinterlassen hatten. Diese Wunderäpfel brachten den Garten der Annamirl in der Laubenkolonie beim Oberwiesenfeld erst richtig zum Blühen.
Weiter sehen Sie hier – bis zum heutigen Tage – den streng neuklassizistischen Bau der Blumen-
schule, hinter deren Mauern die Tatzen und Watschen nur so sausten. Treu-gehorsame Untertanen für Kaiser, König und Hitler waren die logische Folge.
Nun, meine Damen und Herren, begeben wir uns über den Roßmarkt zur Sendlinger Straße, dem Arbeitsbereich der Damen des drittältesten Gewerbes der Welt. Als erstes galt bekanntlich das der Zeltmacher, das zweite stellten die Roßschweifflechter schon seit König Salomos Zeiten.
Ein absoluter Ort der Glückseligkeit: das Marionettentheater – dem wir nunmehr zustreben. Auf der kleinen Bühne bot sich die heile Welt in vollkommener Weise dar wie in den zahllosen win-
zigen Kinos, in denen immer die schöne Unschuld siegte, wenn sie nicht ins Wasser ging und als schönste Leiche des Jahres wieder zur Oberfläche trieb.
Und hier, meine Damen und Herren, befand sich der Laden, in dem die Mutter des besagten Mä-
derls geraume Zeit hindurch mit der horrenden Summe von sieben Rsichsmark und 16 Pfennigen in der Kreide stand, ohne die geringste Aussicht, sie in absehbarer Zeit zurückzahlen zu können. Denn der Diridari fehlte überall im weiten Vaterland.
Ich danke Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, fürs geduldige Zuhören!“
Margaret Kassajep
Süddeutsche Zeitung 192 vom 22. August 1995, 35.