Materialien 1995

Was Privilegierte unter Toleranz verstehen

Zu den Berichten „Religionslästerung tilgen" in der SZ vom 27.7. und „Justizministerium: Verbot der Gotteslästerung bleibt“ in der SZ vom 28.7.:

Die Sprecherin des Justizministeriums bemüht den „öffentlichen Frieden“, um die Beibehaltung des Paragraphen 166 des Strafgesetzbuchs (Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesell-
schaften und Weltanschauungsvereinigungen) zu rechtfertigen. Der muß ja gewaltig gefährdet sein, wenn es im Jahr 1994 ganze sechs Ermittlungsverfahren wegen dieses Tatbestandes gegeben hat! Wobei das Justizministerium wohlweislich verschweigt, wie viele von diesen sechs eingestellt worden sind. In den zurückliegenden Jahren waren es nämlich fast alle. Schon allein daraus ergäbe sich, dass dieses Dinosaurier-Gesetz aus Kaisers Zeiten überflüssig ist wie ein Kropf.

Überflüssig ist es aber noch aus einem anderen Grund: Wir haben genügend Gesetze, um Beleidi-
gungen, Ehrabschneidungen und dergleichen zu ahnden. Mit deren Hilfe können Kirchenleute genauso wie normale Menschen zu ihrem Recht kommen. Ein Gesetz, das einen Sonderstatus für die Kirchen schafft, auch noch anzupreisen, es stehe „für Toleranz“, ist ein Witz. Wann je hätten Privilegierungen die Toleranz gefördert? Hier begegnen wir einmal mehr der merkwürdigen Logik, die da lautet: Intolerant ist, wer „gleiches Recht für alle“, auch bei der Behandlung der Kirchen, fordert.

Der Paragraph 166 StGB soll dem Wortlaut nach alle Weltanschauungsgruppen schützen. Tatsäch-
lich rekurrieren auf ihn aber nur die Großkirchen, was vielleicht auch etwas über deren innere Verfassung sagt: Wenn der Sprecher des Münchner Ordinariats jammert, es habe in jüngster Zeit eine Reihe von Versuchen gegeben, „Glaubensinhalte unter Benutzung geistlicher Symbole lächer-
lich zu machen“, und daraus die Beibehaltung des „Gotteslästerungsparagraphen“ ableitet, so ist diese Wehleidigkeit nicht gerade ein Zeiehen von gelassener Souveränität. Da müssen andere Gruppen ganz anderes einstecken, und sie verkraften es, auch ohne zum Kadi zu laufen und sich darüber zu beschweren, „lächerlich“ gemacht worden zu sein. Gerade Kirchenvertreter sind ande-
ren gesellschaftlichen Gruppen gegenüber nicht eben zimperlich. Es gibt keinen Grund, eine Insti-
tution in besonderer Weise vor vermeintlichen oder tatsächlichen Beleidigungen zu schützen, die es ihrerseits zuläßt, daß einer ihrer Erzbischöfe über „hergelaufene Schwule“ und „randalierende Aids-Positive“ räsoniert und abtreibende Frauen als Mörderinnen beschimpft.

Ursula Neumann
Mitglied des Bundesvorstandes der Humanistischen Union e.V.
Bräuhausstraße 2
80331 München


Süddeutsche Zeitung 178 vom 5./6. August 1995, 11.

Überraschung

Jahr: 1995
Bereich: Religion