Flusslandschaft 1952
Gewerkschaften/Arbeitswelt
»Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen
Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versu-
chen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d. h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.«1
Das Motto des DGB zum Ersten Mai lautet: »Frieden in Freiheit und soziale Sicherheit.« „Unruhen wurden erwartet – München (UP) Eine in Fürstenfeldbruck liegende Hundertschaft der Bereit-
schaftspolizei hatte seit Montagabend Ausgangssperre. Die Hundertschaft lag in Alarmbereit-
schaft, um am 1. Mai erwartete Störversuche der Kommunisten und FDJ bei den Maifeiern zu unterdrücken. Die Gewerkschaften in Bayern hatten Informationen erhalten, wonach 600 FDJ-Angehörige am 1. Mai die auf dem Münchner Königsplatz geplante Maifeier stören wollten.“2 – Etwa 60.000 Menschen demonstrieren auf dem Königsplatz. Die Redner prangern die Wirtschafts-
kriminalität an, die sich auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung breit macht.3
Im Regierungsentwurf zum neuen Betriebsverfassungsgesetz soll unter anderem stehen: § 7 Wähl-
bar sind alle Wahlberechtigten, die das 21. Lebensjahr vollendet haben, zwei Jahre dem Betrieb angehören und das Wahlrecht für den Deutschen Bundestag besitzen … § 60 Personelle Angele-
genheiten im Sinne des Gesetzes sind Einstellung, Umgruppierung, Versetzung und Entlassung … § 75 Der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft oder einer Kommanditgesellschaft auf Aktien muss zu einem Drittel aus Vertretern der Arbeitnehmer bestehen. Die Gewerkschaften lehnen diesen Entwurf ab. Sie fordern die paritätische Mitbestimmung. Aus ganz Südbayern kommen die Kolle-
ginnen und Kollegen mit mehr als achtzig Bussen angefahren, um am 26. Mai zu demonstrieren. Ab 15 Uhr ruht in allen Betrieben die Arbeit. Um 16 Uhr sind mehr als hundertzwanzigtausend Menschen auf dem Königsplatz versammelt.4 Der Hauptredner Lorenz Hagen prangert die „Pro-
fitsucht der Unternehmer und die falsche Wirtschaftspolitik der Bundesregierung“ an. Nach der Kundgebung zieht ein Demonstrationszug durch die Luisenstraße über den Bahnhofsplatz zum Stachus. Demonstranten führen ein Kreuz mit, an dessen Spitze ein Helm mit Dollarzeichen befe-
stigt ist.5 Polizei versucht, den Zug aufzuhalten und das Holzkreuz zu beschlagnahmen. Ein Was-
serwerfer wird eingesetzt. Am Stachus schlagen Angehörige der Polizeibereitschaften mit den Kolben ihrer Karabiner wahllos in die Menge. Auch Frauen werden verletzt. Pressefotografen wer-
den verhaftet, die Kameras ihnen weggenommen und die Filme vernichtet. Lorenz Hagen kurz da-
nach: „Wenn es wirklich so war, wie ich von verschiedenen Augenzeugen übereinstimmend gehört habe, so kann ich diese Zwischenfälle nur als Provokation der Polizei bezeichnen.“6 Die Gewerk-
schaften erleiden bei der Auseinandersetzung um das Betriebsverfassungsgesetz eine schwere Nie-
derlage, ein zentraler Schritt zur innenpolitischen Restauration!
„Tausende Antifaschist/innen und frühere KZ-Häftlinge – ob Sozialist/innen, Kommunist/innen, bürgerliche Humanist/innen oder christliche Pazifist/innen – prägten mit dem politischen Ver-
mächtnis, das sie wenige Jahre zuvor bei ihrer Befreiung aus den Konzentrationslagern beschwo-
ren hatten, den Geist dieser Bewegung: ‚Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!’ Sie kämpften gegen ‚diesen verfluchten deutschen Militarismus, der so viel Leid und Tod für Millionen Men-
schen gebracht hatte’, wie sich Martin Löwenberg erinnert. ‚Bundeskanzler Adenauer wollte bei der Neuordnung Europas bis zum Ural, wie er betonte, diesmal auf der richtigen Seite mit einer star-
ken deutschen Armee dabei sein. Wir wehrten uns gegen diese Vorbereitungen zur Wiederbewaff-
nung Deutschlands und gegen die Eingliederung der Bundesrepublik in ein westliches Militär-
bündnis als Bollwerk und Frontstaat gegen den Kommunismus.’“7
(zuletzt geändert am 27.10.2023)
1 Karl Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW 16, 152.
2 Abendzeitung 102 vom 2. Mai 1952.
3 Siehe Fotos vom „ersten mai“.
4 Stadtarchiv, Fotosammlung, Zentralbestand Ereignisfotografie-Politik.
5 Foto: Demo vom 26. Mai, Menschenmenge, davor ein Kreuz mit Stahlhelm und Aufschrift „U.S. Adenauer. Dafür sollen wir kämpfen und sterben“, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.
6 6 Fotos: Demo gegen das Betriebsverfassungsgesetz und gegen Wiederbewaffnung am 26. Mai 1952, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, Mappe 9b.
7 Michael Backmund: „‚Kriegsgerät interessiert uns brennend’ – Antimilitaristische Proteste – Schlaglichter von 1945 bis 2010“ in Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, München 2011, 154.