Flusslandschaft 1995

Bürgerrechte

Der Schriftsteller, Sozialdemokrat und ehemalige Bundestagsabgeordneter Dieter Lattmann hatte seit jeher Kontakt zu seinen Verwandten in der DDR, aber auch Kontakt zu Schriftstellerkolleg-
Innen und Verbandsfunktionären in der DDR. 1995 ruft ihn die Bundesanwaltschaft an: Er stehe unter dem Verdacht des Landesverrats. Lattmann: „Es war klar, ich brauchte einen Strafverteidi-
ger, denn alleine konnte ich mich dort nicht hintrauen. Es war der Münchner Anwalt Wächtler, der mit mir dorthin fuhr. Er hatte vorher gefragt, ob es irgendwelche Aufzeichnungen meinerseits gä-
be. Ich habe ihm gesagt, dass ich ein ganzes Romanmanuskript bereit liegen hätte. Denn ich hatte mich hingesetzt und alle meine Wege in der DDR zu Zeiten der Teilung aufgeschrieben, um mir klar zu werden, ob es Menschen gibt, bei denen ich mich entschuldigen müsste. Ich hatte mich ge-
fragt: ‚Habe ich Fehler begangen?’ Anwalt Wächtler sagte daraufhin zu mir: ‚Her damit!’ Er hat mich dann unterwegs nach dorthin noch einmal dazu ermutigt, ihnen fünf Viertelstunden lang aus diesem Manuskript vorzulesen, denn er meinte: ‚Das geschieht denen recht!’ So geschah es dann auch und ich habe das zu Protokoll gegeben. Dies war die Verteidigung eines Schriftstellers gegen den Verdacht des Landesverrats.“1

Kritik über die Deformationen in der Gesellschaft wird lauter; beklagt wird der alles dominierende Parteienstaat, die Verflechtung von Bürokratie und Parlament mit mächtigen wirtschaftlichen In-
teressengruppen, die Aushöhlung des Schutzes der Privatsphäre durch staatliche Überwachungs-
maßnahmen und eine kommerziellen Zwängen ausgesetzte Presse, die ihren Kontrollaufgaben im-
mer weniger nachkommt. Bürger wollen nicht mehr Objekt der Politik sein. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“!2 Volks- und Bürgerbegehren bilden eine direkte Möglichkeit ohne Umwege über einen Mandatar oder Repräsentanten und ohne zeitliche Verzögerung durch Wahlen politisch Ein-
fluss zu nehmen. – Die Veranstaltungen zur Rätezeit in München begleitete 1988 auch der blaue „Omnibus für direkte Demokratie“. Nach dem Ende der Aktion „Volksentscheid gegen Atomanla-
gen“ startete Brigitte Krenkers im September 1987 auf der documenta 8 in Kassel die Fahrt des ersten „Omnibus für Direkte Demokratie“. Das Symbol stammte von Joseph Beuys, der Hase mit der goldenen Sonne. Im Juli 1988 kam es zur Gründung des Vereins Initiative Demokratie Ent-
wickeln -
IDEE e.V. Im Herbst 1988 fand ein „Demokratiekongress“ gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung statt. Das Büro von IDEE, das eine Plattform für direkte Demokratie werden sollte, befand sich in Bonn. 1992 gründeten Freunde um IDEE e.V. in München Mehr Demokratie in Bayern e.V., um den kommunalen Bürgerentscheid in Bayern einzuführen. – Die Initiative „Mehr Demokratie in Bayern“ nimmt im Februar 1995 mit ihrem Volksbegehren die Zehnprozenthürde mit 13,7 Prozent.3 Die CSU kontert mit einem Alternativentwurf zur Schadensbegrenzung. Die Initiative will auch den Bezirksausschüssen mehr Entscheidungsbefugnisse einräumen. Sie setzt sich am 1. Oktober 1995 erfolgreich durch, allein in Au/Haidhausen mit 71,9 Prozent. Nach einem bayernweiten grandiosen Abstimmungserfolg sind jetzt Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in bayrischen Städten und Gemeinden möglich. Seitdem finden in Bayern 2.182 Initiativen für Bür-
gerbegehren und Bürgerentscheide statt. Vielleicht ist der Erfolg der plebiszitären Bürgerbeteili-
gung in Bayern auch der übermächtigen Position der CSU geschuldet; schließlich gibt es 2009 nur noch zwei andere Staaten, in denen eine Partei länger als ein halbes Jahrhundert die Regierung stellt: China und Nordkorea. – Der Verein IDEE bekommt 1995 eine neue, einprägsamere Bezeich-
nung: Mehr Demokratie e.V . Der Verein ist mittlerweile bundesweit tätig und berät Bürgerinitiati-
ven, die Plebiszite planen.

Bisher benutzten nur Sondereinsatzkommandos der Exekutive (SEKs) die so genannten Tonfas, die auf bayrisch „Einsatzstock“ genannt werden. In Wackersdorf und bei den Protesten gegen den WWG 1992 in München kam es beim Einsatz von Tonfas zu Rippenbrüchen und Verletzungen von Milz, Leber und Nieren. Bis Ende 1996 wird die gesamte bayrische Polizei damit ausgerüstet.4


1 Dieter Lattmann, Schriftsteller, im Gespräch mit Corinna Spies – α-forum, Sendung vom 16. Februar 2006, 20.15 Uhr, www.br-online.de/alpha/forum/vor0602/20060216.shtml.

2 Ein Schweizer, so erinnert sich der Schreiber dieser Zeilen dunkel, meinte einmal, dass es nur zwei politische Systeme gebe: Systeme mit zufriedenen Politikern und einem unzufriedenen Volk und Systeme mit einem zufriedenen Volk und unzufriedenen Politikern.

3 Vgl. Westend Nachrichten. Stadtteilzeitung für das Westend und die Schwanthalerhöh’ 23 vom September 1995, 14 f.

4 Vgl. taz vom 14. November 1995.