Flusslandschaft 1995

Lebensart

Der bayrische Verwaltungsgerichtshof hat zum Schutz der Anwohner für die Waldwirtschaft bei Pullach die Sperrstunde auf 21.30 Uhr angeordnet. Da organisieren Brauereien, Lokalpolitiker und Medien den »Volkszorn«. Über 200.000 Unterschriften werden innerhalb kürzester Zeit für das »Heiligtum der bayerischen Lebensqualität« gesammelt. Am 12. Mai demonstrieren auf dem Ma-
rienplatz etwa 25.000 Menschen für „den Erhalt der Biergartenkultur. Auch wer noch nie demons-
triert hat, nimmt daran teil. Blasmusik und Trachtengruppen begleiten uns«. Dabei sind Justizmi-
nisterin Leutheusser-Schnarrenberger, OB Ude mit Gattin, Finanzminister Theo Waigel. Minister-
präsident Edmund Stoiber hält triumphierend ein großes Plakat in die Höhe. Auf diesem ist in arti-
fizieller Kunstschrift zu lesen: »Erste bayerische Biergartenrevolution. Das bayerische Volk fordert Gesetzesänderungen zur Rettung von Tradition und Biergartenkultur. Verein zur Förderung der Münchner Biergartenkultur e.V.«1 Michael Knopf: „Punkt halb fünf rutscht Theo Waigels rechte Augenbraue nach oben. Er steht stramm, zügelt sein Gesicht – da gleitet ihm die linke aus. Darf das schon als Zeichen gelten, daß die Revolution nun ausgebrochen sei? Gemach; erst muß noch am Rednerpult Ursula Seeböck, die heilige Johanna der Biergärten, ihr blondes Haar nach hinten werfen und wohlgefällig die Menge überblicken; doch dann: ,Liebe Revolutionäre, meine Damen und Herren hier auf dem Podiuk …‘ Oha. ,…. auf dem Podium!‘ Wir sollen um halb zehn schlafen gehen, weil ein paar wenige das so wollen! Buuuuuuuuuuuh! Die Gesetze müssen geändert werden, damit es keine solchen Urteile mehr gibt! Jaaaaaaaaaaa! So geht die Revolution, und so geht sie dann auch weiter. Und das war sie eigentlich auch, rein inhaltlich gesehen, denn was noch so kommt an Reden, das sind Varianten eines gewaltigen bairischen Urschreis, das ist die Befreiung vom Alpdruck traumschwerer Nächte, in denen es nur so wimmelte von leeren Maßkrügen und bleichen Verwaltungsrichtern, die mit Planierraupen durch Biergärten fuhren …“2 Nachdenkliche Zeitgenossen vermuten, dass diese 25.000 Menschen mit Sicherheit nicht für den Schutz der Um-
welt, menschenwürdige Behandlung von Asylsuchenden oder für gerechte Löhne und Arbeitsbe-
dingungen auf die Straße gehen. In der darauf folgenden Woche erlässt die bayrische Staatsregie-
rung die »Bayrische Biergartenverordnung«, die die Sperrstunde auf 23 Uhr festlegt.

(zuletzt geändert am 8.8.2025)


1 Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen 6250, 6252; siehe „Wenn’s dem bösen Nachbarn nicht gefällt“ von Heiner Uber.

2 Süddeutsche Zeitung 110 vom 13./14. Mai 1995, 49. (Hans Podiuk, CSU, Stadtrat 1978 bis 2020)