Flusslandschaft 1995

Wohnen

In der Berufungsverhandlung vor dem Landgericht München I kommt Ver- und Entmieter Joa-
chim S. (Bavariaring 41) mit einer Bewährungsstrafe, 5.000 Mark Buße und 200 Stunden gemein-
nütziger Arbeit davon. »Dem neuen Urteil zufolge hat S. die Bewohner schikaniert, indem er mehr als 100 Löcher in die Wände des Treppenhauses bohren und diese mit ätzender Farbe streichen ließ. Ferner habe er mit Folien die Fenster verhängt und samstags eine Wand im Dachgeschoß herausreißen lassen. Der Angeklagte hatte das als ,berechtigte Sanierungsmaßnahmen’ bezeichnet, aber eingeräumt, der ,Nebeneffekt’ der Mieterbelästigung sei ,nicht unerwünscht’ gewesen: Das Haus wurde inzwischen zwangsversteigert.«1

Die Methoden, Häuser mieterfrei zu bekommen, sind in allen Stadtvierteln ähnlich. Wichtig ist, diese Vorgänge wie hier im Westend zu veröffentlichen, damit ein gemeinsames Bewusstsein da-
von entsteht, dass man sich wehren kann.2

Das Bundesverkehrsministerium will — das wird im August bekannt — rund 15.000 Eisenbahner-wohnungen mit einem großen Anteil an Sozialwohnungen verkaufen. Rudi Stock, bayrischer Lan-desvorsitzender des Mieterbunds, protestiert bei Bundesminister Matthias Wissmann und Theo Waigel. „Bei der Formulierung, man wolle beim Verkauf der Wohnungen ,sozialverträglich’ vorge-hen, blinken bei uns alle Warnlampen auf … Schließlich habe man die Mietenentwicklung in den neuen Bundesländern gleichfalls ,sozialverträglich’ zu gestalten versprochen, aber ohne die massi-ven Einsprüche und Proteste des Mieterbundes wäre das Los der dortigen Mieter heute ,noch be-dauernswerter’ … ‚Die öffentlichen Hände sollten grundsätzlich ihre Finger vom Verkauf der in ihrem Besitz befindlichen Wohnungen lassen‘, schreibt Stock. Schließlich seien diese Wohnungen unter sozialen Gesichtspunkten vergeben worden, und oft, speziell bei den Bahnbediensteten, seien sie ‚Teilabgeltung für nicht gewährte Vergütung zusätzlicher Leistungen der Arbeitnehmer’. Grund-sätzlich sei die Wohnung ein hochrangiges, unersetzliches, zudem von der Verfassung geschütztes Gut. ,Die Wohnung darf nicht zu einer Manöwiermasse herabgewürdigt werden, und es darf auf keinen FaII sein, dass Etatfragen zu Lasten der Menschen gelöst werden sollen, die nicht gerade zu den einkommensstärksten zählen.‘“3

(zuletzt geändert am 2.10.2025)


1 Süddeutsche Zeitung 86 vom 17. April 1995, 50.

2 Siehe „Legal, illegal – scheißegal?“.

3 Süddeutsche Zeitung 193 vom 23. August 1995, 37.

Überraschung

Jahr: 1995
Bereich: Wohnen

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