Materialien 1975
Der Krieg der Mumien gegen Anne, Claudia und die Verfassung
Nach dem BVerwG-Urteil gegen Anne Lenhart und Claudia Eisinger
{BayVGH = Bayerischer Verwaltungsgerichtshof ‒ BVerfG = Bundesverfassungsgericht ‒
BVerwG = Bundesverwaltungsgericht ‒ CV = Cartellverband (120 studentische Verbindungen) ‒
GG = Grundgesetz ‒ OV = Oberverwaltungsgericht}
Blutschutz und Kommissarerlaß
Vor Weitergabe an Jugendliche sollte diese Seite herausgerissen werden, denn zu berichten ist zu-
nächst von jenem abgründig-grausamen, genugtuerisch-unappetitlichen „Rassenschande“-Urteil vom 23.8.1939, das unter dem Aktenzeichen: (SS) II KLs 56/39 den heutigen Bundesverwaltungs-
richter Dr. Edmund de Chapeaurouge als Strafrichter nennt und den armen Leon Israel Abel letzt-
lich das Leben gekostet hat. Dieser war auf Rezept von einer Medizinalassistentin am Magen mas-
siert, von einem NS-Patienten gesehen und von der Polizei geholt worden. „Trotz hartnäckigen Leugnens“ habe sich nämlich unter einer Zudecke das Glied versteift. Hierüber erst im Strafver-
fahren belehrt, hielt es die blondblauäugige Göre für zeitgemäß, in bitterliches Weinen auszu- und zu erbrechen. Daraus machte das Urteil „Geschlechtsverkehr im Sinne des Blutschutzgesetzes“, „schwere seelische Schädigung“, Ehrverlust und 38 Monate Zuchthaus. Gesinnungstüchtigkeit und die pseudojuristische Fertigkeit, nichts mit nichts durch nichts zu verknüpfen, das ist auch die Handschrift des von Dr. de Chapeaurouge verfaßten Urteils gegen Anne Lenhart. Ein weiterer Ge
richtsherr über Anne und Claudia: Bundesverwaltungsrichter Dr. Rudolf Weber-Lortsch, der – am Tage der Machtergreifung in die Partei eingetreten – bereits als Vizepolizeipräsident des eroberten Kattowitz, als Verwaltungs- und Justizchef des Reichskommissariats Norwegen und beim SS- und Polizeiführer des Reichskommissariats Ukraine in Nikolajew politische Gegner zu nehmen wußte.
Sie haben nicht ihr Haupt verhüllt und ihr Antlitz der Sonne abgekehrt, sie haben als versteinerte Maske und mit dummdreisten Witzchen über integre und qualifizierte Mädchen gerichtet, auf deren Leben nicht der leiseste Schatten gefallen ist. Wieder wurden Personengruppen und Gesin-
nungen diskriminiert, die im demokratischen Rechtsstaat nicht diskriminierbar sind.
Diszipliniert haben unsere Massenmedien nur das „langerwartete klärende Grundsatzurteil“ be-
grüßt; die periodisch wiederkehrende Aufmerksamkeit einer internationalen Öffentlichkeit ist dem Skandal trotzdem sicher und wird zum lästigen Trauma. Nicht „hilfloser Antifaschismus“, sondern nüchterner Realitätssinn lehrt jedoch, daß sich der typische Selbstreinigungsversuch der Justiz spontan keineswegs zugunsten der Berufsverbotsopfer, sondern eines widersinnigen Nachah-
mungsdruckes auswirkt: Wiederholung des Unrechts soll die Ursächlichkeit der Nazikollegen vom rechtsstaatlichen Kleide wegreiben, wodurch sie wie der Blutfleck des Macbeth immer wieder her-
vortritt. Die eingerasterte Fehlreaktion kann nur in der breiten längerfristigen Auseinandersetzung abgebaut werden. Schon von daher ist der rechte CDU-Politiker und Verfassungsgerichtspräsident Ernst Benda nicht der Mann der Stunde …
Korrekte Ersturteile
Späteren Sticheleien zum Trotz waren es gewiß keine apokalyptischen Reiter und grundstürzleri-
schen Verwaltungsrichter, die Anne und Claudia Verfassungstreue bescheinigt hatten. Da präsi-
dierte der Typus des kraft Gespürs für historische Gebrochenheit souverän gewordene Altkonser-
vative, daneben der noch ungebrochene Rechtsstaatsliberale, der CV-Karrierist mit den eigen-
tümlich starren, zuweilen unheilvoll aufflackernden Augen des Abendländers und der beflissene SPD-Aufsteiger mit leerem Lauerblick hinter der Hornbrille; da gab es als Laienbeisitzer, vom schweren Tagwerk gleichermaßen gezeichnet, den vifen ÖTV-Funktionär wie den schläfrigen Trachtenjanker, dessen Strauß-Gläubigkeit anzukratzen ein inhumaner Akt wäre, – eine Mischung, die jedenfalls immer den nichtabenteuerlichen Aspekt gegebener Machtverhältnisse und somit bleibende Werte verkörpert und nur reelle Gewinnchancen verspricht; solange die DKP nicht vom Bundesverfassungsgericht verboten ist, kann eine angebliche Verfassungswidrigkeit, „Verfassungs-
feindlichkeit“, „Verfassungsunfreundlichkeit“, „Verfassungsbedenklichkeit“ nicht unterstellt wer-
den. Den Klägerinnen, die vom marxistischen Denkansatz her traditionell gewerkschaftliche Ziele mit überzeugender Natürlichkeit zu vertreten wußten, gönnte man den Genuß des „Parteienprivi-
legs“ nach Art. 21 Abs. 2 Grundgesetz.
Leerformeln und Räuberpistolen
Auf die Berufung der Regierungen von Rheinland-Pfalz und Bayern hin haben das OV Koblenz (23.8.73) und der BayVGH (7.12.73) die Scharte eilends ausgewetzt. Im stundenlangen Kreuzver-
hör konnten sie nach dem unverdächtigen Zeugnis zahlreicher Regierungsbeobachter Anne und Claudia nicht das Wasser reichen, verurteilten und achteten sie – ein herbes Kompliment über den Graben hinweg! – als berufene Repräsentantinnen jener Kraft, die deutsche Richter 1945 hinderte, so weiter zu machen wie bisher, und so erst einer „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ unterwarf. Ein Hoch auf Anne und Claudia!
So mußten Leerformeln herhalten: Sie haben sich durch ihren Eintritt zur DKP bekannt, die sich wiederum zur „Lehre von Marx, Engels und Lenin“ bekenne; dazu habe man früher „Marxismus-Leninismus“ gesagt, welche Lehre das KPD-Verbot von 1956 – so wird frei erfunden! – für ver-
fassungswidrig erklärt habe. Durch dieses Einfallstor werden dann antimarxistische Räuberpisto-
len aus bismarck’schen Verbotsverfügungen, Goebbelslügen und dem Karlsruhe des Kalten Krieges als höchsteigenes Glaubensbekenntnis unterschoben. Um das rechtsstaatliche Gesicht zu wahren, müßte man den politisch erzwungenen Geltungsverlust des KPD-Verbotes wenigstens nachträglich aus der Rechtsordnung selbst begründen; stattdessen will man gegen den Wortlaut (BVerfG 5, 145) wenigstens noch eine Verurteilung der marxistischen Lehre herausholen (etwa wie der letzte k.u.k. Scharfrichter, vom Schicksalsschlag der Abschaffung der Todesstrafe getroffen, noch zum Gefange-
nenprügeln eingesetzt zu werden hat). Das OVG Koblenz beschränkt die Parteienfreiheit auf die „wirksamere Kontrollierbarkeit“, eine gigantische Lockspitzelei; den Einfluß marxistischer Partei-
en im Verfassungsleben Italiens und Frankreichs erklärt er aus „dem Verzicht dieser Länder, … schädliche Einflüsse aus den eigenen Reihen abzuwehren“. Den 30. Januar 33 tauft es in eine Art bolschewistischen Umsturzes um, dadurch heraufbeschworen, daß man die Antifaschisten (z.B. Marxisten) nicht gründlich und frühzeitig genug ausgeschaltet habe. Sklavisch übernimmt es einen FAZ-Leserbrief des rechtskonservativen Sozialdemokraten und Mitgründers des „Bundes Freiheit der Wissenschaft“ Prof. Hermann Lübbe, der in dem ergreifend schlichten Zirkelschluß gipfelt, daß dem „Spartakus ein Lehrertyp entstammt, der bisher Selbstverständliches problematisiert und einen Schülertyp erzeugt, auf den vor dem Schultor wieder der Spartakus lauert“.
Den FAZ-Brief ersetzt der BayVGH durch eigene Gedankenführung: Eisinger lasse die Lohnabhän-
gigen als Bevölkerungsmehrheit über die Politik einen „korrigierenden“ Einfluß auf den sozial-
ökonomischen Bereich nehmen, dessen „Souveränität“ sie damit antaste. Damit müsse aber ihr Verhältnis zum Verfassungsmerkmal der „Volkssouveränität“ zwiespältig sein; und weil das Parla-
ment die Volkssouveränität repräsentiere, müsse gleichzeitig auch ihr Verständnis der „Gewalten-
teilung“ infiziert sein. Unausgesprochener, weil, offen verfassungswidriger Maßstab ist demnach die Unantastbarkeit privatwirtschaftlicher Vormachtstellungen. Geschmackvollerweise konnte es sich Senatspräsident Dr. Preisenhammer (CSU) in der Berufsverbotsverhandlung nicht verkneifen, den eben stattgehabten Chile-Putsch als „Notwehr gegen den Verfassungsbrecher Dr. Allende“ zu begrüßen.
So kommen die Berufungsgerichte zu der „Feststellung, daß Zweifel am jederzeitigen Einsatz der Bewerberin für die fdG0 verblieben sind“.
Der große Dreh
Aus eben dieser sogenannten „Feststellung“ macht das BVerwG in den nun vorliegenden Revisi-
onsentscheidungen eine „Tatsachenfeststellung“, die es, da nur für „Rechtsfragen“ zuständig, ungeprüft zu übernehmen habe, solange sie – wie hier – „nicht ersichtlich gegen zwingende Ge-
setze der formalen Logik“ verstießen. Freilich: gegen Gesetze der formalen Logik hat auch der NS-Volksgerichtshofpräsident Roland Freisler nicht verstoßen, als er Juden zu Volksschädlingen er-
klärte und – wie die beiden Obergerichte und Ernst Benda – sozialistische und staatsfeindliche Bestrebungen gleichsetzte, nur eben gegen alle Werte der Humanität und der Demokratie.
Im vereinfachten Modell soll sich folgendes Karusell einspielen: Tatsacheninstanz: „Wegen des gerichtsbekannten Wesens der sozialistischen Idee müssen Zweifel an der Verfassungstreue fest-
gestellt werden!“ BVerwG: „Dies ist eine Tatsachenfeststellung, die inhaltlich nicht überprüfbar und somit rechtskräftig ist!“ Alle Untergerichte: „Laut BVerwG können aus der sozialistischen Idee Zweifel an der Verfassungstreue hergeleitet werden!“ Für derlei massenhafte formale Bezugnahme auf einen formalen Zirkelschluß bleibt nur noch die vom Bundesverfassungsgericht verliehene unumstößliche Gesetzeskraft zu wünschen übrig.
Welcher Standort auf der Skala der Verfassung seinen legitimen Platz hat, ist natürlich nicht irgendeine, sondern die revisible Rechtsfrage schlechthin. Durch einen in seiner entwaffnenden Plumpheit genialen Trick weicht das BVerwG allen inhaltlichen Festlegungen und Begründungs-
zwängen aus und stilisiert gleichzeitig eine unausgewiesene reaktionäre Meinung zur Grundsatz-
entscheidung über die Voraussetzungen der Verfassungstreue und zum zentralen Gesinnungsver-
dikt empor. Daß Untergerichte, Presse, Politik die Zeichen so und nicht anders verstehen, ist rechtspolitische Absicht.
In der absurden Konsequenz dieses Tricks prüft das BVerwG nicht etwa, ob Eisinger den Demo-
kratiegedanken auf den sozialökonomischen Bereich anwenden dürfe, sondern ob es den formallo-
gischen „Denkgesetzen“ widerspreche, wenn der BayVGH seinerseits den Demokratiegedanken den Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft konsequent fernhalten möchte und an diesem Standpunkt Claudia Eisinger messe und scheitern lasse. Dies sei „nicht denkunmöglich, weil sich das GG nicht auf eine bestimmte Wirtschafts- und Sozialordnung festgelegt hat“. Was die Verfas-
sung dem Bürger als Freiheit verbürgt, wird so umgemodelt in die „Freiheit“ des Staatsapparates, eine bevorzugte politische Meinung unter Existenzvernichtung Andersmeinender für alleinver-
bindlich zu erklären.
Nachdem aus der bloßen Existenz eines Instanzenzuges als solcher die Quasi-Legitimation für eine unterstellte „Verfassungsfeindlichkeit“ geschöpft wurde, wird plötzlich konkret gefragt, ob diese im voraus diskriminierte Meinung auch „aktiv gezeigt“ worden sei. §o sei Eisinger in einem Flugblatt „gegen die personelle Verflechtung von Universität und Kriegsindustrie, die Liquidierung der ver-
faßten studentischen Organe und verschärfte soziale Auslese durch das BAFÖG“ aufgetreten; da-
mit habe sie „nicht nur die wissenschaftliche Theorie des Marxismus, sondern dessen tagespoliti-
schen Ziele verfolgt; ein solches Handeln wird nicht geschützt“. Mit dieser rabiaten, aus dem argu-
mentatorischen Nichts geholten Illegalisierung allgemeinster demokratischer Anliegen schließt sich der Kreis zu der im BVerwG auch personell vertretenen NS-Rechtstradition. Da ist es kein Widerspruch mehr, wenn das gleiche BVerwG noch 2 Jahre vorher das „Parteienprivileg“ eifrigst gewahrt wissen wollte, denn da war es ein führender NPD-0berstleutnant, dessen „Karriere keine Einbußen erleiden“ durfte. Da verwundert nicht mehr der Rückgriff des BVerwG auf die preussi-
sche Idee vom Völkerrecht als „äußerem Staatsrecht“, wenn es den Konflikt der Berufsverbote mit der Menschenrechtskonvention und internationalen Verträgen dickfellig zugibt, diese aber der „Verfassung“ in der jeweils eigenen politischen Ausdeutung unterordnet.
Schwäche und Stärke
Rechtsstaatliche Postulate wie die Verfassungsfunktion des „Parteienprivilegs“, die Anfechtbarkeit des „Gewährleistungs“-Begriffs, Fragen der Beweislastverteilung, administrativer „Toleranzschwel-
len“ und „liberaler Spielräume“ und andere Schwerpunkte bisheriger Berufsverbotskritik sollen nicht herabgewürdigt werden; hier greift die höchstrichterliche Lähmungswirkung der Entschei-
dung in ihrer mechanischen Zusammenstellung aller für die Berufsverbote lautgewordenen und Ignorierung aller anderen Ansichten zunächst ein, bis sie – von einer anderen Flanke her – über-
wunden werden kann. Umso weniger dürfen sie jedoch der bisher nicht ganz erfolglosen Verlok-
kung der Berufsverbotsfronde weiter Vorschub leisten, die gegnerischen Fronten vereint auf die infame Fragestellung festzunageln: „Dürfen Verfassungsfeinde in den öffentlichen Dienst?“ Nach dem Willen aller Demokraten dürfen sie dies natürlich nicht, wenn auch auf Grund einer verfas-
sungskonformen, sozialstaatlich-antifaschistischen Ableitung. Bedrängnis und Verdrängungs-
zwang verspüren die Berufsverbieter bei der einzig relevanten Frage, die, in Urteilen mit wenigen übelgelaunten Floskeln abgetan, ihre prinzipielle Schwäche und damit den strategischen Ansatz-
punkt der Demokraten zeigt: „Wer ist Verfassungsfeind? Was ist verfassungswidrig?“ Es geht nicht darum, ob Diebstahl bestraft werden darf, sondern, wer gestohlen hat.
Hier brodelt einstweilen an den Laichplätzen der Wirtschaftsverbände und Pressezäsaren und in den Grauzonen der Bürokratie die restaurativ-aggressiv-subalterne Subkultur, die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt): wo man bei aller formaljuristischen Schulung zwischen Kossygin und dem Schinderhannes nicht immer fein genug zu differenzieren gewillt ist, die UNO längst als auf-
zulösende Ersatzorganisation der KPD beargwöhnt und nur murrend schluckt, daß die Anerken-
nung der Ostgrenzen, der DDR-Staatlichkeit, der Atomwaffensperre, der europäischen kollektiven Sicherheit von der Bundesregierung übernommen werden mußten und nicht mehr fürs Gefängnis prädestinieren, wo der Protest gegen die US-Verbrechen in Vietnam als Auslieferung des bayri-
schen Freistaates unter die Verfassung Ho Chi Minhs und der Versuch aktiver pädagogischer Ein-
wirkung auf das familiäre und soziale Milieu „unterprivilegierter“ Kinder als „Betätigung des Klas-
senkampfgedankens“ angelastet und im Godesberger- wie im rororo-Verlags-Programm Verfas-sungsfeindliches gewittert wurde; wo mit Bedacht die drei geistigen Säulen jeder Gewerkschafts-
arbeit denunziert werden: 1) der Positionenkampf gegenläufiger sozialer Interessen, in den die Verfassung z.T. zugunsten der Arbeitenden eingreift, 2) der Zweifel an der ursprünglichen Neu-
tralität eines väterlichen Verteilerstaates, 3) das Prinzip der Selbsttätigkeit der Unterlegenen für eigene demokratische und soziale Interessen.
Strategieansätze
Schöpfer der Nationalkultur von Schiller über Keller zu Böll, sozialpolitische Konzeptbildner von Fichte bis Vetter wären als „verfassungsfeindlich“ denunzierbar. Umgekehrt sind hier die desig-
nierten Opfer, Historiker, Soziologen, Literaturwissenschaftler, demokratische Juristen und humanistische Theologen aufgerufen, fachspezifische und doch auf breitester thematischer und bündnispolitischer Front als Munition verwertbare Schätze für den operativen politischen und juristischen Einsatz zu heben, so der Berufsverbotspolitik als dem derzeit allgemeinsten und flexibelsten (auch weil diffusestem) Angriff auf die Verfassungssubstanz zu kontern, die progres-
sive Geschichtslinie und Nationalkultur als deren Träger und Erbe selbstbewußt zu vertreten und somit last not least die Gefahr eigener resignativ-infantiler Verdrängungshaltung aktiv zu über-
winden.
Beim ersten Einstieg in die konkrete Standortbestimmung muß der Gegenangriff schon fungiert aufbereitet sein. BDI , BDA, CDU/CSU fordern die „Totalrevision der Verfassung“, die Ersetzung letzter Elemnte der Volkssouveränität durch monopolistisches Management. Jäger und Sammler haben sich über den Fußnotenapparat von Helga Grebings „Konservative gegen die Demokratie“ zu stürzen (Ft. 1972); und Prof. Schelsky, der seinen Fachkollegen Prof. Holzer nicht wissenschaftlich überwinden, sondern – wieder in einem FAZ-Artikel – nur fürs politische Berufsverbot vorschla-
gen konnte, mißhandelt die Demokratie in Idee und Praxis, wo er kann, und bekommt hierfür selbst vom Hausjuristen der Bundesregierung Prof. Kriele das Wörtchen „Totalitarismus“ zu hören (Merkur 301, S. 522). Haben diese Staatsrechtler Hitlers und der Bundesregierung, die Forsthoffs, Scheuners, Webers, sich jemals von ihren faschistischen Ordungsvorstellungen prinzipiell abge-
grenzt oder wenigstens auf deren Aktualisierung verzichtet?
Als Retter in der Not sollen Ernst Benda und sein BVerfG schnellstens ein dauerhaftes, jeden kon-
kreten Begründungszwanges enthebendes Bezugsschema liefern, weil die Berufsverbotsfronde mit gutem Grund ein kurzgeschlossenes, formales Scheingefecht der langfristigen, inhaltlichen Aus-
einandersetzung vorzieht und fürchtet, daß der historische Anachronismus des Berufsverbots zu wirken beginnt. Es kollidiert mit den seit der Niederringung des Faschismus etablierten Autori-
tätsstrukturen dieser Gegenwart. Es versucht, Hauptträger deutscher Demokratiegeschichte, das Gedankengut August Bebels und des Anti-Hitler-Widerstandes außerhalb der Verfassung zu stellen, und fällt in jene kurzsichtige Hybris zurück, die bereits in Form der Hallstein-Doktrin und der strafrechtlichen Blitzgesetze zum Scheitern verurteilt war. Es widerspricht dem europäischen Kulturstandard und wird dem internationalen Kräfteverhältnis wie der modernen Industriege-
sellschaft mit ihren Widersprüchlichkeiten und Reformbedürfnissen nicht gerecht. Der traditio-
nelle Teufelskreislauf: Nachkriegsapathie, expansionistische Dynamik, Katastrophe, die, weil das menschliche Fassungsvermögen übersteigend, keinen pädagogischen Nährwert besitzt, um wieder mit der Nachkriegsmarktwirtschaft zu beginnen, ist durchbrochen. Außenpolitische und infra-
strukturelle Widersprüche, die durch keinen „Tag X“ mehr vorläufig verdrängt oder erledigt werden können, sind im Frieden langfristig zu regulieren. Die Carl Schmitt’sche Freund-Feind-Dynamik des Zuges der Lemminge nach rechts muß wenigstens teilweise wieder einem Rudolf Smend’schen Integrationskonzept weichen, in dem reale normative Machtfaktoren unter traditi-
onell bürgerliche Verfassungsbegriffe gebracht sind. Erscheint jede vitale Auseinandersetzung als solche zwischen „Verfassungsfeinden“ und „Verfassungsfreunden“, gerät jede Anpassungsphase zur gefürchteten „Autoritätskrise“. Dabei nähert sich die Dauer zweier reziproker „Tendenzwen-
den“, der Zyklus je einer imperialistischen Anlauf- und Brechungsphase derjenigen eines deut-
schen Verwaltungsprozesses bis zur Rechtskraft.
In dieser Situation sind Berufsverbote kein rechtliches Spezialgebiet oder ein politischer Konflikt- und Aktionsbereich neben anderen. Sie sind ein wesentlicher Aspekt sämtlicher gesellschaftlichen Widersprüche und der aus ihnen erwachsenden Alternativen, von denen F.J. Strauß – wohl zu Recht – immer jeweils die eine letztlich irgendwo auf die sozialistische Alternative bezieht, von der Mitbestimmung, der Bodenordnung über die Bildungsreform bis zur Kriminalpolitik und dem dahinterstehenden Menschenbild. Die Berufsverbotsopfer verkörpern nicht nur ihr persönliches Existenz- und Karriereinteresse, sondern die Systemalternative und den aktuellen Zündstoff in ihrem jeweils um einen relevanten gesellschaftlichen Widerspruch und Reformbereich zentrierten Wirkungsfeld. Andere als bei abstrakten Thema „Notstandsgesetze“ bringt jedes individuelle Schicksal neue, in Sachthemen kanalisierbare Belebung und Verschärfung, wie umgekehrt der Betroffene umso stärker ist, je stärker er in aktuellen kontroversen Sachfragen verwurzelt ist und auch sachbezogene Solidarität genießt. Im Falle ihres Kollegen Frieser (DKP) sahen die Münchner Sozialarbeiter, Familienfürsorger und Jugendschützer zu Recht eine Bedrohung des für organisier-
te Arbeit an den neuralgischen Punkten, der Gesellschaft erforderlichen gesellschaftskritischen An-
satzes, wobei ihnen der Ahnherr, der „preussische Armenpolizist“ im Nacken saß. Solidarität geht verschlungene Pfade und die Stadt versäumte die Berufungsfrist gegen das positive Ersturteil. So schlug sieh auch St. Bürokratius auf die Seite der stärkeren Bataillone und die stehen bekanntlich dort, wo Demokraten solidarisch handeln.
Das bewährte „Blitzkriegskonzept“ der deutschen Rechten verfängt beim Berufsverbot schon des-
halb nicht, weil jeder nur ein Leben, nur einen Beruf, nur einen Prozeß und nur ein Forum hat, Denunziationen, Definitionen und Verantwortlichkeiten dingfest zu machen. Hunderte werden in offener Schlacht wie Anne und Claudia das Feld behaupten. Überlegene verfassungsbürgerliche Integrität und Qualifikation begegnet immer gleichen stereotypen Unterstellungen, Leerformeln und Ausweichmanövern, die ab dem 100 sten Mal immer abgeschmackter und peinlicher zu wirken beginnen. Heerscharen schlotternder Knie wird es nicht geben, solange der linke Flügel-
mann steht, als Schild vor anderen Demokraten in der gemeinsamen Front, mit der auch er fallen müßte. Der Gesamtprozeß der Berufsverbotsprozesse wird dabei zur Dauerinstitution und zur Dauerinstanz, in der Verfassungsinhalte ausgestritten und mit der Überfülle verfassungsfeindli-
cher Positionen der Rechten konfrontiert werden und in der auf jedes rechtsrestaurative Pamphlet im Urteilsgewand die Antwort so sicher folgt wie der nächste Berufsverbotsfall.
Droht aber die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Zeit unausweichlich zu werden, werden die Gerichte wieder dankbar auf jenes formale Kriterium und jene Abstraktionsebene zurückgreifen, die ihnen die Verfassung eigens für ein solches Dilemma geschenkt hat, um es nie wieder zu ver-
schmähen: das Parteienprivileg nach Art. 21 Abs. 2 GG.
Bendas Catch-as-catch-can
Darum sollte das BVerfG nach dem Willen der Berufsverbieter lieber heute als morgen tabula rasa machen. Benda „erwartete“ eine Verfassungsbeschwerde Anne Lenharts und mag dabei den Wunsch gehabt haben, als Vorsitzender des für Verfassungsbeschwerden zuständigen, von einer CDU/CSU-Mehrheit getragenen 1. Senates dem mit einem Vorlagebeschluß zur Berufsverbots-
problematik befaßten 2. Senat zuvorzukommen (Sämisch ./. Schleswig-Holstein, II BvR 13/73), da dieser einen Fraktionengleichstand von Koalition und Opposition aufweist und vielleicht doch noch die Ausbildungsreferendariate gewährleisten könnte.
Vor, während und nach seiner Ernennung zum Präsidenten dieses BVerfG hat Benda landauf landab mit seinem „politischen Hauptziel – mit welchen rechtlichen Mitteln man immer es erreicht – “ renommiert, die von ihm sogenannten und mit „Baader-Meinhof“ gleichgesetzten „Systemveränderer aus dem Verfassungsleben auszuschalten“ (Zit. nach Knirsch u.a., Radikale im öffentlichen Dienst, Ffm. 1973, S. 221 und E. Benda, Das Dilemma des Rechtsstaates, FAZ vom 25.10.72). Deren „Taktik ist die Legalität, der das Verfassungsgericht und die Politiker nicht allein begegnen können“; der Bürger selbst habe zur „Abwehr im Vorfeld der Verfassung“ zu schreiten und dabei seine „ihm eigens zu dieser Art Integration des Gemeinwesens geschaffenen Grund-
rechte zu nutzen“ (Ders., Das Dilemma … a.a.O.).
Vor dem Verband deutscher Zeitungsverleger hat Benda die Praxis der Beschlüsse vom 28.1.1972 ausdrücklich für verfassungsgemäß erklärt. Wer das „Grundrecht des Verlegers auf Meinungsfrei-
heit“ durch Forderung redaktioneller Mitsprache „verletzt“ oder sonst „eine mit dem Sprachge-
brauch der Verfassung verkleidete Sozialisierung will“, sei Verfassungsfeind (FR vom 16.5.72 = gedruckte Fassung: E. Benda, Die Sicherung unsrer Grundrechtsordnung, Bonn 1972, S. 14 ff.), und gegen die Deutsche Journalisten-Union gerichtet: „Wer Sozialisierung will, mag solche Forderungen mit Vokabeln umkleiden, die dem Sprachgebrauch der Verfassung hier und da entsprechen, aber mindestens sein Verfassungsverständnis deckt sich nicht mehr mit dem Willen des Grundgesetzes.“ Eine „möglichst geschlossene Antwort“ auf die „gefährlichen Einbrüche an den Hochschulen“ sei das Gebot der Stunde (sämtl., a.a.O.).
Zum Thema „Wirtschaftsordnung und Grundgesetz“ interviewt, behauptete Benda, eine Sozia-
lisierung nach Art. 15 GG, „die nicht ohnehin wegen der grundrechtlich geschützten Entschä-
digungsregelung praktisch undurchführbar ist“, sei verfassungswidrig (Frankfurter Gespräche „Wirtschaftsordnung und Grundgesetz“ vom 29.10.72, 11.30 Uhr, Niederschrift des Hessischen Rundfunks, S. 6). Sozialistische Vorstellungen seien „auch in dem einen oder anderen Punkt … im Grunde mit der Substanz freiheitlicher Vorstellungen unvereinbar“ (a.a.O., S. 17 und 19). Die Be-
rufsfreiheit sei „nur in der Form des Unternehmertums“ geschützt, womit Mitbestimmung und Vergesellschaftung im Ansatz ausgeschlossen bleiben. Mangels „unternehmerischer Entschei-
dungsfreiheit“ erstrecke sich die Berufsfreiheit schon begrifflich nicht auf „Arbeiter und Ange-
stellte“ (sc. erst recht nicht auf Beamte, a.a.O., S. 4).
Ja, der Bundesverfassungsgerichtspräsident will die Diktatur der Großbourgeoisie und zwar in einer integrativ-demokratischer Elemente weitestgehend entledigten Herrschaftsform. Sein Standardwerk „Industrielle Herrschaft und sozialer Staat“ (Göttingen 1966, S. 9) dient dem Nachweis, daß „der Sozialstaat des Grundgesetzes kein Verfassungsauftrag im Sinne der histo-
rischen Sozialbewegung“ sei, sondern – ähnlich dem Konzept der Formierten Gesellschaft – die im Großbetrieb bestehenden Herrschaftsverhältnisse als rechtlichen Idealtypus institutionalisiert (a.a.O., S. 58 f.). Die Sozialstaatsklausel wolle nicht die „gewachsenen“ Machtverhältnisse antasten, sondern „ausschließlich Schranken gegen Gleichmacherei … egalitäre Forderungen errichten“ (S. 197, 111). Gleichheit sei nicht nur im sozialökonomischen, sondern, auch im staatlichen Bereich eine „Fiktion“ (S. 109).
Es soll dahinstehen, ob nicht jede kompromißlose Ablehnung der Mitbestimmung die „Diktatur der Monopolbourgeoisie“ enthält. Benda jedenfalls fordert „Führung und Gefolgschaft“ im „per-
sonalen Gemeinschaftsstaat des Schaffens“ und lehnt den „Pluralismus“ ab (a.a.0., S. 70, 111, 440), wie eben ein Faschist. Nur derjenige „freiheitliche Sozialismus“ sei grundgesetzkonform, der wie der Nationalsozialismus „die Eigentumsfrage auf den dritten Platz gerückt“ habe (a.a.0., S. 357).
Benda bietet uns gewiß keinen Umsturz der Gesellschaftsordnung, wohl aber des Grundgesetzes an.
Quis tulerit Bendam de seditione querentem? (Juvenal, Satiren 2, 24), Man darf Benda nicht zum Gärtner machen.
Zum Besten einer Verfassungsinstitution
Kommunisten tragen für diese Verfassung und ihre Institutionen Verantwortung. Die Vorausset-
zungen für eine moderne bürgerliche Verfassung in Deutschland geschaffen zu haben, bleibt europäisches Jahrhundertsverdienst, wobei das Verhältnis, in dem sich Oberlandesgerichtsräte und Rotarmisten in dieses Verdienst teilen, hier offen bleiben darf. Nachkriegsjugend, darin erzogen, daß „die Losung ‚Nie wieder Krieg!‘ überholt“ (Strauß Iaut SZ vom 8.2.53), „der zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende“ (ders., SZ vom 21.9.61) und „Europa bis zum Ural zu befreien“ sei, erinnert sich jedenfalls dankbar, daß der Ordnungsfaktor Sozialismus vor so manchem gefährli-
chen Abenteuer bewahrt hat. Er hat wie kein anderer historischer Verfassungsfaktor zu den sozialen und friedlichen Elementen dieses Status Quo und zu den Verfassungsrealitäten des In- und Auslandes beigetragen.
All dessen eingedenk wissen Kommunisten den Wert des BVerfG als intaktem Integrationsorgan für eine fährnisreiche Zukunft wohl zu schätzen.
Die von bürgerlichen wie marxistischen Historikern gleichermaßen bestäigte „Unfähigkeit des deutschen Imperialismus zur realistischen Einschätzung von Kräfteverhältnissen“ scheint auf die junge deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit dahin abgefärbt zu haben, daß diese nicht mit der gleichen Fortüne wie ihre angelsächsischen Vorbilder geübt ist, die ausgleichende Brücke zu schlagen von tagespolitischen Präferenzen zu langfristigen Integrationsinteressen. Zu nennen ist nur das wirkungsgeschichtlich und rechtsmethodisch beispiellose Spätschicksal des KPD-Verbotes, dessen politisch unumgänglicher Geltungsverlust sich außerhalb der selbstgeschaffenen Rechtsfor-
men vollziehen mußte, die politische und moralische Niederlage einer in den Illusionen des Kalten Krieges befangenen politischen Strafjustiz mit ihren Kontinuitäts- und Glaubwürdigkeitsverlusten, das hartnäckige Beharren des BVerfG auf den Konstruktionen der Hallstein-Doktrin, bis wenigs-
tens diese im Grundlagenvertragsurteil unter zahllosen Flüchen zu Grabe getragen werden mußte, usw. War das gut oder schlecht für das Ansehen des Rechtsstaates? Der erhabenen Majestät des Rechts geziemt es nicht, die Finger erst zurückzuziehen, wenn auf dieselben geklopft wird. Demo-
kratische Reservate gegen den Schelsky’schen und Benda’schen Totalitarismus dürfen keine Mau-
erblümchen in des Wortes konkreter Bedeutung sein. Die von Herbert Marcuse schon zur Gänze vermißte „Zweidimensionalität“ staatlichen Lebens sollte man tunlichst nicht allzu deutlich auf eine Art Mauerrückpralleffekt reduzieren, sondern sich die Chance mählicher autonomer Reifung gönnen.
Nun ist Ernst Benda kein Reichsfreiherr vom und zum Stein und auch kein Chief Justice Oliver Wendell Holmes. Wer es mit der Autorität und der Institution des Bundesverfassungsgerichtes letztlich gut meint, wird der Herrn Benda zu kurzsichtigen politischen Kraftakten provozieren?
Ceterum censeo: Nazirichter haben Anne und Claudia verurteilt.
Hans-E. Schmitt-Lermann
„Berufsverbote“, Nachlaß Zingerl, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung