Materialien 1977

Liebe Eltern, liebe Kinder, ...

wenn wir die Zeitungen aufschlagen, finden wir in ihnen täglich Artikel über die miserable Situati-
on unserer Kinder. Im Münchner Merkur stand unter der Überschrift: „Tödliche Noten“ (Zitat) „Mindestens 40.000 junge Leute wachen in diesen Juni-Tagen in Bayern mit Angst, Sorgen, viel-
leicht mit Magenschmerzen auf. Einige Tausend von ihnen denken ans Ausreißen, manche an Selbstmord. Einige tun’s – wie der zwölfjährige Bub aus Pöcking. Vom Frühstück ging er wortlos ins Schlafzimmer der Eltern, nahm ein Kleinkalibergewehr des Vaters und schoß sich ins Herz.“

Kultusminister Maier sprach von den Schulen unseres Landes, wo gerade die Zeit der Noten vor-
steht – eine fürchterliche Zeit vor allem für jene 40.000, die schätzungsweise ihr Klassenziel an den Realschulen oder Gymnasien nicht erreichen werden. In Prozenten ausgedrückt, wird der Kummer noch deutlicher: Jeder Zehnte kommt – rund gerechnet – nicht durch.

Wir fragen, was tun diese verantwortlichen Leute dagegen?

Die andere Überschrift im Münchner Merkur heißt: „Maier schuld an Selbstmorden“. (Zitat) „In seine Amtszeit fielen die meisten Schüler-Selbstmorde, die es je gegeben hat.“ „Mit dem steigenden Leistungsdruck haben sich die Selbstmordzahlen von 1959 bis 1972 von 42 auf 435 Kinder erhöht.“ Der Kinderfeind Nr. 1, F.J. Strauß sagt zu dieser Situation: „Schon der liebe Gott hat leider Un-
gleichheit geschaffen. Gescheite und weniger Gescheite, Fleißige und weniger Fleißige auf die Welt kommen lassen.“

ln der Abendzeitung vom 28. April 1977 hieß die große Überschrift: „Die Sonne bringt den Spiel-
platzmangel an den Tag.“ „Es gibt Ärger um Kinderlärm in Hinhöfen.“ Obwohl das bayrische Bau-
gesetz sagt: „Bei mehr als drei Wohnungen in einem Gebäude muß für ausreichende Spielmöglich-
keiten gesorgt werden.“ Schauen wir uns mal in unserem Stadtteil um. Da gibt es keinen Abenteu-
erspielplatz, da gibt es einige Spielplätze, auf denen man nur mit Pressluftbohrern im Sandkasten spielen kann, da der Sand vor allem von Hunden und Katzen benutzt wird, und von der Stadt nicht erneuert wird.

Was ist das für ein Land, in dem im Buch „Orientierungswerte für städtebauliche Planung 1974“ festgelegt wird, daß z.B. in den Wohngebieten der Abstellplatz für ein Auto 25 qm beträgt, und bei Kindern zwischen 7 und 12 Jahren ein Flächenwert pro Kind von 0,75 qm als Mittelwert gerechnet wird? Ein Auto kann man parken, aber ein Kind braucht doch zu seiner Erholung Bewegung, es kann doch nicht einfach auf einer Fläche von 0,75 qm abgestellt werden!

Was ist das für ein Land, wo über 2.200 Planstellen für Lehrer fehlen, wo bei einer Klasse mit 35 Schülern für jedes Kind nur 1,6 qm bleibt, aber ein Hund nach Richtlinien des Tierschutzvereins 6 qm benötigt?

Was ist das für ein Land, wo in der UNO-Charta der Rechte des Kindes, dem Grundgesetz und der Jugendgesetzgebung der BRD wichtige Rechte der Kinder niedergelegt sind, diese aber oftmals nur auf dem Papier stehen, für Sozialgesetzgebung und für die Bildungspolitik in unserem Land ist bei weitem nicht das Beste der Kinder bestimmend, wie es die UNO-Charta verlangt. Ärztliche Betreu-
ung, Mutterschutz, Gelegenheit zu Spiel und Erholung, Kindergärten, Schule und Berufsausbil-
dung sind oft völlig ungenügend. In den Schulen unseres Landes gibt es zu große Klassen und zu wenig Räume, viel zu wenig Lehrer, für Kindergärten, Spiel- und Freizeiteinrichtungen fehlt das Geld, weil es in die Taschen der Millionäre geht und für Kasernen, Raketen und Panzer ausgegeben wird …


Schwabinger Wecker. Stadtteilzeitung der DKP für Schwabing-West vom Juli/August 1977, 1 f.

Überraschung

Jahr: 1977
Bereich: Kinder