Materialien 1977
Ein ganz alltäglicher Fall
Wir haben erst gezögert, ob wir den Fall Rupprechtstr. 1 überhaupt aufgreifen sollten. Er ist näm-
lich so ganz und gar alltäglich; aber gerade deshalb, so meinten wir dann doch, verdient er das Interesse unserer Leser. Als eine Skizze aus dem Alltag der „freien Marktwirtschaft“.
Herr Aigner, dem das Haus Rupprechtstraße 1 gehört, hält sich mit Sicherheit für einen höchst honorigen Hausbesitzer – und wer ihn öffentlich einen Mietwucherer nennen wollte, stünde wohl vor jedem bundesdeutschen Gericht auf verlorenem Posten. Denn die Beutelschneiderei, die er betreibt, ist juristisch hieb- und stichfest abgesichert und hält sich, wie gesagt, völlig im Rahmen des Orts- und Landesüblichen.
75% MIETERHÖHUNG
Für die 15 Mietparteien seines Hauses stellt sich die Sache freilich etwas anders dar. Von ihnen wurde jetzt, von einem Monat auf den anderen, eine Mieterhöhung um 75% verlangt, von rund 2,50 auf 4,40 pro qm, begründet mit dem Hinweis auf entsprechende Vergleichswohnungen – und auch der mieterfreundlichste Rechtsanwalt wird ihnen nicht helfen können, sie müssen zahlen. Das bedeutet für die 15 Familien ein Loch von 130 Mark im Haushaltsgeld, das auch die nach-
drücklichsten Beweise für die „Ortsüblichkeit“ einer solchen Miete nicht stopfen können.
Die Empörung der Mieter ist umso größer, als sie sich darauf eingestellt hatten, noch lange Jahre zur Sozialmiete wohnen zu können; im Lauf der Jahre haben sie deshalb Zehntausende von Mark für die Instandsetzung und Verschönerung ihrer Wohnungen aufgewendet, die jetzt natürlich deren „Vergleichswert“ erhöhen.
Alle Mieter sind schon 1954 in das Haus an der Rupprechtstraße eingezogen; im Krieg ausge-
bombt, waren sie damals glücklich, daß ihnen endlich eine Wohnung zugewiesen wurde – ohne Komfort wie Lift und Zentralheizung zwar, aber doch tausendmal besser als die Notunterkünfte, in denen viele von ihnen jahrelang hatten leben müssen.
AUF KOSTEN DER STEUERZAHLER
Die Kosten für den Neubau stammten größtenteils aus Steuergeldern – teils Fördermittel im Rah-
men des sozialen Wohnungsbaus, aber auch 6.000 Mark pro fliegergeschädigte Mietpartei, die das Lastenausgleichsamt direkt dem Hausbesitzer zubutterte. Die Wohnungen waren deshalb auch relativ preiswert – rund DM 1,15/qm.
(Das sind, nebenbei bemerkt, immer noch 20 bis 30% mehr, als man heute in Leipzig oder Dres-
den für eine Neubauwohnung mit Lift und Zentralheizung bezahlt. Freilich, dort herrscht ja auch die schreckliche Wohnungszwangswirtschaft, von der uns die Bundestagsparteien schon in den 60er-Jahren befreit haben!)
MIETER AUSGETRICKST
Natürlich wurde die Miete nach 1954 immer wieder erhöht, obwohl sich der Hausbesitzer um wenig mehr als um den pünktlichen Eingang des Geldes kümmerte; die zuletzt gut zweieinhalb-
tausend Mark, die ihm die Mieter Monat für Monat überwiesen, waren Herrn Aigner trotzdem entschieden zu wenig.
Deshalb trickste er hinter dem Rücken der Betroffenen, die erst durch sein jetziges Mieterhö-
hungsverlangen davon erfuhren, aber völlig legal die Sozialwohnungen in „freifinanzierte“ um, in dem er die billigen öffentlichen Kredite (2 – 4% Zins) mit Hilfe von teuren 11%-Bankkrediten (für die selbstverständlich auch die Mieter aufkommen müssen!) vorzeitig zurückzahlte; und da er dies schon 1971 tat, kurz bevor die heute gültige 10-Jahres-Sperrfrist in Kraft trat, kassiert er jetzt statt zweieinhalbtausend rund viereinhalbtausend Mark pro Monat, ohne einen Finger krumm machen zu müssen.
EIN KLEINER FISCH
Wir wollen die Sache nicht dramatisieren: Herr Aigner nutzt lediglich den Umstand aus, daß ihm eine Erbschaft ein bescheidenes Plätzchen an der Sonnenseite der „freien Marktwirtschaft“ ver-
schafft hat. Damit er in der Sonne sitzen kann, müssen sich allerdings 15 Familien im Schatten drängen.
Und dabei ist der Besitzer der Rupprechtstraße 1 nun wirklich ein qanz kleiner Fisch; ein Mann wie Kaußen, große Wohnungsgesellschaften drängen Zehntausende von Mietern in den Schatten, und oft mit weit brutaleren Mitteln.
Lohnt die Sonne für die wenigen den Schatten für so viele?
Rotkreuzplatz-Blitz. Zeitung der DKP-Wohngebietsgruppe Neuhausen 6 vom November 1977, 7.