Flusslandschaft 2002
Flüchtlinge
In München leben 24.000 Flüchtlinge, davon 4.700 in staatlichen Container-Unterkünften, 3.000 in städtischen Gemeinschaftsunterkünften, 16.300 in Wohnungen. In der Vergangenheit hat die Stadt es geschafft, einen relativ großen Teil der Flüchtlinge, für die sie zuständig ist, in Wohnungen unterzubringen. Wegen der Probleme am Wohnungsmarkt gelingt dies jedoch immer seltener.
Es gibt zur Zeit einundzwanzig städtische Gemeinschaftsunterkünfte, fünf davon sind Container-Unterkünfte.
„Im Februar 2002 steht erneut eine zentrale Abschiebeanhörung mit der Botschaft von Togo in einem Münchner Flüchtlingslager auf dem Programm. Togoische Exilgruppen und die Karawane rufen zum Boykott auf und stellen über zwei Tage eine eindrucksvolle Protestkundgebung vor dem Lager auf die Beine. Bis auf einige Wenige boykottieren die betroffenen TogoerInnen geschlossen den Termin und beteiligen sich stattdessen am Protest. Ein voller Erfolg, und eine große Blamage für die Botschaft sowie die ‚Zentralstelle Rückführung’. – Anfang 2002 werden erste Pläne des bayerischen Innenministeriums bekannt, nach dem Vorbild von ähnlichen Modellprojekten in Rheinlandpfalz und Niedersachsen spezielle Abschiebelager – euphemistisch ‚Ausreisezentren’ genannt – für abgelehnte Flüchtlinge einzurichten, die bisher u.a. wegen ungeklärter Herkunft oder Identität nicht abgeschoben werden können. Prinzip der ‚Ausreisezentren’: Psychische Zer-
mürbung der Betroffenen durch extra schlechte Unterbringung, Leistungsstreichung, Sonderre-
striktionen, Kontrollterror und quälende Befragungsverfahren. Ziel ist es, die Leute zur Mitwir-
kung an der eigenen Abschiebung zu zwingen. Die Karawane organisiert im Mai gemeinsam mit dem Bayerischen Flüchtlingsrat eine Demonstration gegen Abschiebelager und für ein Bleiberecht unter der Losung ‚Deutschland Lagerland’. Zahlreiche Flüchtlinge unterschiedlicher Nationalität beteiligen sich. Das ist der Beginn einer bis heute andauernden Kampagne gegen die miesen Le-
bensbedingungen in den ‚Gemeinschaftsunterkünften’. – Anknüpfend an die Anfänge der Karawa-
ne gibt es im Wahljahr 2002 wieder eine bundesweite Karawanetour unter dem Motto „Asyl ist Menschenrecht – wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört”. In München protestiert die Kara-
wanetour vor dem Gefängnis Stadelheim, in dem auch Abschiebehäftlinge sitzen, und vor der damaligen Erstaufnahmestelle des „Bundesamtes für Migration und Flucht” in der Untersberg-
straße.“1
„Gegen Internierungslager für Flüchtlinge – Demo am Samstag, 25. Mai.“ Die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge ruft aus aktuellem Anlass zu einer Demonstration auf: „Die bayerische Landesregierung und andere Bundesländer planen die Einrichtung von Internierungslagern, um die Abschiebung von Flüchtlingen zu beschleunigen. Aus diesem Grund organisiert die Karawane München zum 25. Mai 2002 eine große Demonstration, um NEIN zu sagen zu Internierungslagern und um die deutsche Bevölkerung zur Solidarität aufzufordern.“ Die Demonstration „No border – no nation!“ wird von vielen Organisationen unterstützt und beginnt mit mehreren hundert Men-
schen um 12 Uhr am Karlsplatz/Stachus. Auf der Demo Richtung Odeonsplatz sind Parolen wie: „Abschiebung ist Folter – Abschiebung ist Mord! Bleiberecht für alle – jetzt sofort!“ zu hören. Dann am Hauptbahnhof der erste Zusammenstoß zwischen Polizei und Demonstrierenden: Ein Polizist will einem Protestierenden die Fotokamera wegnehmen. Als dieser sich zu Recht weigert, wird der Beamte handgreiflich. Nach einem kurzen unnötigen Gerangel geht die Demo weiter. Etwas später wird vom Lautsprecherwagen aus ein „Spontanerlass“ von den Herren der Exekutive verkündet, es dürften keine Transparente mehr seitlich des Demozuges getragen werden. Die Menschen nehmen dies mit wenig Beachtung, teils mit Gelächter auf, worauf die Polizisten aggres-
siv und provozierend in die Menge prügeln. Es lässt sich davon aber niemand provozieren. Man bildet Ketten und ruft: „Hoch die internationale Solidarität!“ Auf der Abschlusskundgebung vor dem Innenministerium am Odeonsplatz wird eine Resolution der Karawane verlesen, die dann von Delegierten dem Innenministerium übergeben wurde.
Im neuen Zuwanderungsgesetz, das von den Bundes-GRÜNEN mitgetragen wird, ist im Juni be-
schönigend von „Ausreisezentren“ die Rede. Wo die Lager in Bayern gebaut werden sollen, steht noch nicht fest. Im Gespräch ist Nordbayern, aber auch München. Der Bayerische Flüchtlingsrat vermutet, dass in München die Asylbewerberheime am Schwankartweg in Riem oder in der Un-
tersbergstraße in Frage kommen. Auch die Grünen-Abgeordnete im bayrischen Landtag, Elisa-
beth Köhler, tippt auf den Schwankartweg: „Dort gibt es einen strengen Wachdienst und auch schon Abschiebungs-Testläufe.“ Durch die Umwidmung bereits bestehender Unterkünfte für AsylbewerberInnen in „Ausreisezentren“ lassen sich mit geringem finanziellen Aufwand sehr viel mehr Menschen an wenigen Orten konzentrieren und unter Druck setzen, als dies mit der Abschie-
behaft bisher möglich ist.
Am 6. September finden Flüchtlinge symbolisch Aufnahme und Schutz in der Kirche St. Johannes am Preysingplatz in Haidhausen.
Das Asylbewerberlager München, das künftig vermutlich ein Abschiebelager werden wird, fotografiert Alexander Thal am 9. September.2
19. Dezember: »Flug 1790. Abschiebung. Mitgliedern des Bayerischen Flüchtingsrates gelang es am vergangenen Donnerstag auf dem Flughafen in München, die Abschiebung des Togolesen Koumai Agoroh zu verhindern. Sie forderten die Fluggäste der KLM-Maschine 1790, die nach Amsterdam fliegen sollte, den Start der Maschine solange zu verzögern, bis die Flugbesatzung sich weigere, Agoroh mitzunehmen. Die Passagiere sollten sich nicht setzen, sich nicht anschnallen und dem Personal mitteilen, dass sie ihre Handys nicht ausschalten würden. Die Aktion war erfolgreich, der Pilot weigerte sich, die Maschine zu starten. Die Polizei nahm allerdings zehn Personen wegen eines angeblichen Aufrufs zu einer Straftat fest. Agoroh drohen in Togo nach der Darstellung des Flüchttingsrates die Folter oder sogar die Ermordung, weil er sich in Opposition zur dortigen Dik-
tatur befinde. Inzwischen sitzt er wieder in Abschiebehaft.«3 Einige Monate später durchsucht die Polizei die Räume des Bayerischen Flüchtlingsrates und der Karawane.4
Im Jahr 2002 wurde in 106 Ländern der Erde, so amnesty international, systematisch gequält. Die Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer schätzt, dass knapp zwanzig Prozent der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, gefoltert worden sind, jedes Jahr fast 25.000 Menschen.5
1 Karawane München – die ersten zehn Jahre, München 2008, 17.
2 9 Fotos von Alexander Thal: Asylbewerberlager München künftig vermutlich Abschiebelager, 9. September 2002, Standort: www.arbeiterfotografie.com/galerie/reportage/index.html.
3 Jungle World 1/2 vom 24. Dezember 2002, 13.
4 Siehe „Razzia beim Bayerischen Flüchtlingsrat und der Karawane“.
5 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 6./7. September 2003.