Flusslandschaft 1945

Lebensart

Die kleine keuchende Lokomotive mit dem angehängten Dutzend Kippwagen, die im Herbst 1945 durch die Schellingstraße in der Maxvorstadt fährt, um den Schutt der bombardierten Häuser ab-
zuräumen, heißt im Volksmund „Der fliegende Gauleiter“.1

„In München fällt auf, dass … in der Weinstraße, der Giselastraße, der Ismaninger Straße und anderorts Blechschilder hängen, die den ,Völkischen Beobachter‘ als die ,führende Tageszeitung Deutschlands‘, anpreisen … neben dem Friedhof am Perlacher Forst ein großes Holztransparent das Gelände als ,Kriegsgefangenenlager I des Oberbürgermeisters der Hauptstadt der Bewegung‘ ausweist … die bekannten großen Stadtpläne, wie sie vielerorts aufgestellt wurden, das Münchner Kindl mit dem Hakenkreuz, München als Hauptstadt der Bewegung und die ,Partei- und Führer-
bauten‘ getreulich weiter zeigen … über dem Portal des kasernenartigen Baues des früheren Luft-
gaukommandos in der Prinzregentenstraße ein großer Betonadler in seinen Krallen das lorbeer-
umkränzte Hakenkreuz hält … in der Straßenbahn einen von den Glastüren die Warnung an-
springt: ,Vorsicht bei Gesprächen, Feind hört mit!‘ … die im Nazireich durch allsonntägliche Stra-
ßensammlungen zu geübten Bettlern erzogenen Jungens ihr Handwerk dadurch fortsetzen, dass sie den amerikanischen Soldaten bisweilen die Zigaretten ,aus dem Munde heraus‘ betteln … am Waldfriedhof noch eine Anschlagtafel des ,Stürmer‘ hängt … in manchen Münchner Straßenbah-
nen noch die ,Sparkasse der Hauptstadt der Bewegung‘ Reklame macht.“2


1 Vgl.: Stefan Heym, Wege und Umwege, Streitbare Schriften aus fünf Jahrzehnten, Frankfurt am Main 1983, 174.

2 Süddeutsche Zeitung 11 vom 9. November 1945, 3.

Überraschung

Jahr: 1945
Bereich: Lebensart