Flusslandschaft 1954

Jugend

Der Existenzialismus, der auf Kierkegaard, Heidegger, Sartre, Camus1 und Simone de Beauvoir zurückgeht, vereint Philosophie und Lebenshaltung. Die intellektuelle Jugend Schwabings kleidet sich schwarz und empfindet sich existenzialistisch, ohne sich groß über die eigene Existenz Sorgen zu machen. Männer tragen Bart und kleiden sich mit einem Rollkragenpullover, Frauen tragen enge Röhrenhosen und schauen ernst wie Juliette Greco. So einen „steilen Zahn“ umweht ein Hauch von Tragik, Verruchtheit, Einsamkeit; er, der „Zahn“, sitzt aber auch gerne dekorativ auf einem Motorroller.

Die heutigen Jugendliche waren um 1945 bis 1950 Kinder, die in den Trümmerjahren chaotische Zustände erlebten. Väter waren entweder gefallen, in Kriegsgefangenschaft oder schwer traumatisiert; Mütter besorgten den kärglichen Lebensunterhalt. Kinder hungerten zwar, aber empfanden diese Jahre ohne familiäre und soziale Kontrolle als Abenteuer. Dass „geregelte Zustände“ wieder ihren Einzug fanden und Autoritäten restriktiv Grenzen zogen und zunehmend Freiräume beschnitten, können jetzt viele Jugendliche nur schwer akzeptieren.

In den eher proletarisch geprägten Vorstädten treten ab etwa 1952 immer häufiger die „Halbstarken“ in Erscheinung. „Die vorwiegend männlichen Jugendlichen waren exzentrisch gekleidet. Abends standen sie an Straßenecken und formierten sich zu ‚Rudeln’. Dann belästigten sie Passanten, demolierten öffentliche Anlagen oder rasten, sofern im Besitz von Motorrädern, mit großem Lärm und in rasendem Tempo um Häuserblocks. Dahinter stand nicht die Erreichung eines Verkehrsziels, sondern dies geschah um des Fahrens und des Lärmens willen.“2 So die Wahrnehmung eines Juristen aus dem Jahre 2005. Tatsächlich geht es um die sprachlose Verständigung innerhalb einer Altersgruppe, die sich mit Hilfe gemeinsamer Statussymbole und scheinbar sinnloser Aktionen, die der Zweck-Nutzen-Argumentation der „Alten“ widersprechen, von der älteren Generation absetzt. Strukturlose Gruppen mit wechselnden Wortführern erschöpfen sich im „ziellose“ Protest, indem sie Autos samt Insassen hochheben, als Rudel im geschmeidig-wiegenden Gang, der die eng sitzende Jeans unterstreicht, in Eisdielen einfallen oder auf „Feuerstühlen“ herumfahren. Erst ein 1956 erlassenes Gesetz verbietet das Herumfahren von Motorrädern „aus purer Lust“3.


1 Siehe „Mich ekelt …“ von Albert Camus.

2 Heiko Drescher, Genese und Hintergründe der Demonstrationsstrafrechtsreform von 1970 unter Berücksichtigung des geschichtlichen Wandels der Demonstrationsformen, Phil. Diss., Düsseldorf 2005, 59 f.

3 Christian de Nuys-Henkelmann „Träumereien am Nierentisch. Kunst und Alltagskultur der fünfziger Jahre. Teil II“ in L’80. Demokratie und Sozialismus. Zeitschrift für Literatur und Politik 35 vom September 1985, 153.

Überraschung

Jahr: 1954
Bereich: Jugend

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