Flusslandschaft 2007

Hausbesetzungen

Ein stadteigener roter Block mit vier Aufgängen und 24 Wohnungen liegt in der Westendstraße 192 bis 198 neben dem ehemaligen Tramdepot; er soll bald abgerissen werden. Mitte Juni holt die Polizei zwei 14 und 17 Jahre alte Mädchen aus einer der leerstehenden Wohnungen, das Woh-
nungsamt stellt Strafantrag wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung. In der Wohnung im zweiten Stock der Nummer 196 liegen einige Pflastersteine herum. Eines der beiden Mädchen be-
findet sich in einer „äußerst problematischen“ Lebenssituation, wie Sozialpädagoginnen in einem Bericht an das zum Sozialreferat gehörende Sozialbürgerhaus in Ramersdorf schon am 30. Mai festgestellt haben. Am Montag, 25. Juni, trifft ein Mitarbeiter des Wohnungsamtes in der Westend-
straße zwei weitere 17 Jahre alte Jugendliche an, die er ebenfalls von der Polizei abführen lässt. Das Jugendamt wird davon nicht informiert. In den folgenden Tagen befinden sich mehrere, wie ein Nachbar meldet, „zwielichtige, offenkundig gewaltbereite Personen“ in den Räumen der West-
endstraße 196. Jetzt setzt das Kommunalreferat das Anwesen auf die Liste der besetzungsgefähr-
deten Häuser und informiert die Polizei. Am Freitagvormittag, 29. Juni, bemerken Polizeibeamte, dass das Anwesen von einige Punkern über Nacht für eine Besetzung und Verteidigung vorbereitet wurde und kündigen dem Kommunalreferat die Räumung für 18 Uhr an, das diese Information allerdings nicht an das Sozialreferat weitergibt. Schon vorher wird das Anwesen observiert. Inzwi-
schen ist die 17 Jahre alte Punkerin mit zwei Freunden – die drei haben bei den Eltern des einen im Hasenbergl übernachtet – etwa um 16.15 Uhr, mit allergrößter Sicherheit unter den Augen der observierenden Beamten, in der Westendstraße eingetroffen. Kurz nach 17 Uhr hängen die Beset-
zer ein Transparent aus dem Fenster: „Artikel 14 – Eigentum verpflichtet – Wohnraum muss ge-
nutzt sein.“ Etwa um 18.30 Uhr gehen sechzig Beamte des Unterstützungskommandos (USK) in Stellung. Eine Aufforderung per Megaphon, das Haus freiwillig zu verlassen, erfolgt nicht. 18.45 stürmt das USK das Haus, etwa dreißig bis zu zwei Kilo schwere Pflastersteine gehen auf sie nieder. Die drei Besetzer werden festgenommen, der Staatsanwalt beantragt Haftbefehle wegen versuch-
ten Totschlags. „Es sieht so aus, als habe man die drei ins offene Messer laufen lassen“, sagt Florian Schneider, Verteidiger der Punkerin. Im Sinne einer gewissen Fürsorge hätte die Polizei anders vorgehen müssen. „Es sind schließlich Jugendliche.“ „Die Polizei hätte die Möglichkeit gehabt, die Eskalation zu verhindern“, sagt Siegfried Benker, Fraktionschef der Grünen im Rathaus. Er vermu-
tet politische Gründe hinter dem Vorgehen: „Man hat es bewusst treiben lassen, wollte eine mar-
tialische Räumung.“ Ein Zeichen habe man setzen wollen: In München haben Hausbesetzer keine Chance. Benker kritisiert auch das Sozialreferat: Das habe „soziale Probleme mit Ordnungsmaß-
nahmen zu regeln“1 versucht.


1 Bernd Kastner: „Am Ende fliegen Pflastersteine – Hausbesetzung in der Westendstraße“ In: Süddeutsche Zeitung vom 2. November 2007, www.sueddeutsche.de/muenchen/hausbesetzung-in-der-westendstrasse-am-ende-fliegen-pflastersteine-1.352411.