Flusslandschaft 2009

Bundeswehr

Am Pfingstsamstag stellt der Arbeitskreis „Angreifbare Traditionspflege“ auf dem Bahnhofsvor-
platz in Mittenwald ein Denkmal für die Opfer von Nazi-Verbrechen auf. An der Feierlichkeit nehmen über 200 Menschen aus verschieden Ländern teil. In der Glasvitrine auf der massiven Metallstele befinden sich Steine und Überbleibsel aus den Ruinen des von Gebirgsjägern am 27. Juni 1944 zerstörten italienischen Ortes Falzano di Cortona, die von der dortigen Gemeinde ge-
stiftet wurden. Die Vitrine trägt die Inschriften: „In Trauer um die Opfer der Kriegsverbrechen, die im 2. Weltkrieg von Gebirgsjägern der deutschen Wehrmacht in ganz Europa begangen wurden. In Gedenken an die unter Beteiligung der Gebirgstruppe deportierten und ermordeten Jüdinnen und Juden. In Erinnerung an den Todesmarsch aus dem KZ Dachau, der am 1. Mai 1945 in Mittenwald befreit wurde. Der Gemeinde Mittenwald gestiftet am 30. Mai 2009 vom AK „Angreifbare Tradi-
tionspflege“. Die verwendeten Steine stammen aus dem Ort Falzano di Cortona. Der Ort wurde am 27. Juni 1944 von deutschen Gebirgsjägern zerstört. Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschismus.“

Die Bevölkerung soll Schritt für Schritt an das Auftreten der Bundeswehr im öffentlichen Raum gewöhnt werden. Und damit auch an den Einsatz militärischer Mittel weltweit. Dazu soll am 30. Juli ein öffentliches Rekrutengelöbnis auf dem Marienplatz stattfinden. – Im Vorfeld des Gelöb-
nisses werden am 22. Juni und 9. Juli zwei DHL-Packstationen lackiert. DHL transportiert für Bundeswehr und NATO. In der Nacht vom 5. auf den 6. Juli brennt ein DHL-Laster aus.1 In zehn Stadteilen wurden mehr als hundert Plakatwände in U-Bahnschächten und auf den Strassen um-
gestaltet mit Sprüchen, wie „Soldaten sind Mörder!“, „Soldaten finde ich richtig scheiße!“, „De-
sertieren statt Geloben!“, „Wenn ihr nicht abrüstet, dann tun wir es!“ – gemeinsame Parole aller Spruchblasen ist: „Auch ich störe am 30.7. das Bundeswehr-Gelöbnis um 14h am Marienplatz“.2 – Mitbürgerinnen und Mitbürger beschweren sich im Rathaus, einige Prominente geben Stellung-
nahmen ab wie zum Beispiel Reiner Uthoff vom Münchner Rationaltheater: „Militärische Insze-
nierungen wie öffentliche Gelöbnisse entfernen sich von dem bisherigen Leitbild des ‚Bürgers in Uniform’ und haben ihren legitimeren Platz in Bayreuth auf dem Hügel oder am Hindukusch, wo zur Zeit unsere Freiheit verteidigt wird. Unsere Freiheit war schon immer ziemlich weit von uns entfernt."3

Am 30. Juli legen fünfhundert Rekruten der Bundeswehr auf dem Marienplatz ein feierliches Ge-
löbnis ab. Verschiedene Initiativen, unter ihnen die Gewerkschaft ver.di, protestieren dagegen. Beim Infostand der Gewerkschaft am Richard-Strauss-Brunnen ist auf einem 12 Meter langen Transparent zu lesen: „Jubel über militärische Schauspiele ist eine Reklame für den nächsten Krieg. Kurt Tucholsky" Immer wieder drücken Anwesende auf dem Marienplatz mit lauten Rufen ihren Unwillen aus, Schilder mit Aufschriften werden hochgehalten: „Kein Werben fürs Sterben", „Kein Tschingdarassabum!“, „Soldaten sind Mörder”. Ein massives Aufgebot von 1.300 Polizeibe-
amten geht mit zum Teil rigorosen Mitteln dagegen vor. Sie beschlagnahmen Flugblätter und Pla-
kate, prügeln Menschen, die in Trillerpfeifen blasen, vom Platz, brechen einem Gelöbnisgegner das Handgelenk.4 Am 11. Januar 2010 bereiten in einer öffentlichen Veranstaltung im großen Saal des Rathauses Ulrich Fuchs, Klaus Hahnzog, Detlev Bald, Sigi Benker, Angelika Lex und Johannes Kakoures die Ereignisse nach.5

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Proteste gegen das Bundeswehrgelöbnis am 30. Juli

Am 9. September versammeln sich rund siebzig Menschen auf dem Odeonsplatz, um das Ende
des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan zu fordern. Kurz zuvor wurden bei einem von einem deutschen Offizier angeforderten Luftangriff auf zwei gestohlene Tanklastzüge auch Zivilisten getötet. Auf einem Schild eines Demonstranten ist zu lesen: „Ob’s euer Chef zugibt oder nicht:
Es ist Krieg.“

Am 1. Oktober stehen zwei martialisch gekleidete Soldaten, Attrappen von Sturmgewehren in den Händen, vor der Zentrale der Commerzbank in Frankfurt. Die Münchner Aktionskünstler Günter Wangerin und Wolfram Kastner nennen sich „Deutsche Initiative Bankenschutz“; sie verweisen auf die Verlautbarung der Bank, in der diese betont, wie wichtig das internationale Wirken der Bun-
deswehr für die Sicherheit auch der Finanzmärkte sei. Die Aktion ist behördlich angemeldet und trotzdem erscheint nach zwanzig Minuten die Polizei und fordert die Künstler auf, die Gewehrat-
trappen zu entfernen, die für die ästhetische Intervention eine zentrale Bedeutung haben. Unter Protest geben Wangerin und Kastner dem Begehren nach. Wenige Tage später lädt ein Münchner Kriminalhauptkommissar vom Staatsschutz Kastner zur Vernehmung vor; er habe gegen das Ver-
sammlungs- und Waffengesetz verstoßen. Kastner wird wütend: „Mit ‚Ermittlungssucht und Vor-
ladungswahn’ hat er seinen Brief an den Polizeipräsidenten überschrieben, nachdem er die Ladung ignoriert hatte. Ob denn die Staatsschützer nichts Wichtigeres zu tun hätten, ‚existiert eventuell eine personelle Überbesetzung?’ Der Künstler konstatiert bei der Polizei ‚ein grundlegendes Ver-
ständnis-Defizit’ von Versammlungs- und Kunstfreiheit und bietet an, des Präsidenten Beamte darin aus- und fortzubilden. Was wäre der Provokateur Kastner ohne die Staatsmacht, die sich so trefflich provozieren lässt?“7


1 Siehe https://linksunten.archive.indymedia.org/node/9224/index.html.

2 Siehe https://linksunten.archive.indymedia.org/node/9274/index.html.

3 Militaristische Einflüsse bekämpfen! Warum Gewerkschaften Position beziehen müssen. Eine Dokumentation von ver.di München, München 2011 — www.ifg.rosalux.de/files/2011/07/MEBInnenteil.pdf

4 Siehe „Rede zum feierlichen Gelöbnis“ von Egon Günther, „#31 Gegendemonstrant“. 9 Fotos mit Plakat von Werner Rauch: Protest gegen das öffentliche Gelöbnis der Bundeswehr vom 30. Juli 2009, Standort: www.arbeiterfotografie.com/galerie/reportage/index.html

5 Vgl. die Dokumentation der Veranstaltung in: Studienreihe. Zivilgesellschaftliche Bewegungen – Institutionalisierte Politik 14/2010, auch: www.kurt-eisner-verein.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/100202_SR_14_BundeswehrGeloebnisMuenchen.pdf

6 Foto: Christoph Klinke

7 Bernd Kastner: „Provokateur und Staatsmacht“ In: Süddeutsche Zeitung vom 6. November 2009.