Flusslandschaft 2010

Alternative Szene

Am Vorabend des Ersten Mai demonstrieren die Linksalternativen und Autonomen vom Rosen-
heimer Platz in Haidhausen zum Gärtnerplatz. Ein Sprechchor lautet „Alles für alle, und zwar vegan!“1 Diese Alternative zum DGB-Ritual des folgenden Tages wird wiederum aufs heftigste kritisiert.2

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26. August vor dem Gerichtsgebäude

In der Szene wird oft heftig gestritten. Wenn aber einer vor Gericht gezerrt wird, steht man zu-
sammen. Im August soll Ebs verurteilt werden. Beim Prozessauftakt sind über zweihundert Menschen anwesend, die dagegen protestieren.4

„… Stattpark OLGA ist eine Gruppe von Wagenwohnern. Wir suchen momentan für unsere Ge-
meinschaft einen Platz, nicht nur zum Wohnen, sondern auch zum Verwirklichen verschiedenster Projekte aus dem sozialen und kulturellen Bereich. Wir sind ein bunt gemischter Haufen von Handwerkern und Künstlern, Studenten, Angestellten und Selbstständigen, Kindern und Erwach-
senen. Was wir machen: Auf unserem Wagenplatz würden wir gerne folgende Projekte ins Leben rufen:
◊ regelmäßige VoKü
◊ OpenAir Kino
◊ offene Werkstätten (Holz und Radi)
◊ Straßencafe
◊ Bücherei
◊ Umsonstladen
◊ Kinderaktionen etc.
Alles wird auf unkommerzieller Basis stattfinden. Wirklich jeder soll mitmachen und mitgestalten können. Was uns noch fehlt: Der geeignete Platz dafür! Wir suchen einen zentralen Platz, auf dem wir als Teil Münchens wohnen können und unsere selbstverwalteten Projekte allen zugänglich machen können. Wir wollen die Stadt München um einen Freiraum für alternatives, ökologisches Wohnen, für abwechslungsreiche Veranstaltungen und offene Begegnungen bereichern. sags.OLGA@gmx.de5 – Am 30. September ist der Traum zu Ende. Die Fünfzehn vom Stattpark verlassen nach den geduldeten drei Monaten ihren Platz auf dem Schwere-Reiter-Gelände. In München werden sie mit der Begründung, dass baurechtliche Richtlinien dies nicht zuließen, im-
mer wieder vertrieben.6 München bringt viele kreative Potenzen hervor, die mit ihren „verrück-
ten“ Ideen an strikten Verweigerungshaltungen von Politik und Verwaltung abprallen. Die Stadt ist Spitzenreiter im Verbieten und Untersagen von neuen, alternativen, anderen Konzepten. Das Man-
tra heißt: „Das ist nicht möglich, die Gesetzeslage lässt es nicht zu, das hat es noch nie gegeben, wo kommen wir denn dahin!?“ Die kreativen Köpfe verlassen schließlich nach mehreren abgeblockten Versuchen die Stadt und werden an anderen Orten nicht nur willkommen geheißen, sondern kön-
nen dort auch ihre Vision umsetzen. Ist diese Vision aber als erfolgreich erkannt, wird sie plötzlich auch in München wieder möglich. Absurd wird es dann, wenn — wie schon oft — die outlaws zehn, zwanzig oder dreißig Jahre später mit einem Preis der öffentlichen Hand ausgezeichnet werden oder gar nach ihrem glücklichen Ableben ein Platz oder eine Straße nach ihnen benannt wird.

Während einer Diskussion unter linksalternativen Frauen und Männer im Münchner Norden ver-
sucht einer der Anwesenden im Herbst diesen Jahres zu begründen, warum er die herrschende Ge-
sellschaftsform als „formale Demokratie“ abwertet. Er meint, der Staat sei inzwischen zur Beute der Parteien geworden. Diese wiederum seien in ihrer Entscheidungsfindung abhängig von einer Parteielite, die über personelle Karrieren entscheide und die zugleich den Mainstream in der Partei prägte und von ihm geprägt würde. Außerdem lägen diese Parteien und ihre Abgeordneten an der langen Leine der Lobbyisten, die die Rahmenbedingungen der Gesellschaft definierten. Nicht zu-
letzt seien die Stiftungen der Parteien mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit so erfolgreich meinungsbil-
dend, dass alternative Gesellschaftsentwürfe nicht wahrgenommen würden. Daraufhin meinte eine Anwesende, das sei doch recht unverständlich, da habe eine Frau, die sich bestens auskenne, die „formale Demokratie“ unvergleichlich besser beschrieben. Die Bundeskanzlerin habe in ihrer Rede zur Vorstellung des „Allensbacher Jahrbuchs der Demoskopie“ am 3. März in Berlin gemeint: „… Aber genau deshalb bin ich auch zutiefst davon überzeugt, dass es richtig ist, dass wir eine reprä-
sentative Demokratie und keine plebiszitäre Demokratie haben und dass uns die repräsentative Demokratie für bestimmte Zeitabschnitte die Möglichkeit gibt, Entscheidungen zu fällen, dann in-
nerhalb dieser Zeitabschnitte auch für diese Entscheidungen zu werben und damit Meinungen zu verändern. Wir können im Rückblick auf die Geschichte der Bundesrepublik sagen, dass all die großen Entscheidungen keine demoskopische Mehrheit hatten, als sie gefällt wurden. Die Einfüh-
rung der Sozialen Marktwirtschaft, die Wiederbewaffnung, die Ostverträge, der Nato-Doppelbe-
schluss, das Festhalten an der Einheit, die Einführung des Euro und auch die zunehmende Über-
nahme von Verantwortung durch die Bundeswehr in der Welt – fast alle diese Entscheidungen sind gegen die Mehrheit der Deutschen erfolgt. Erst im Nachhinein hat sich in vielen Fällen die Haltung der Deutschen verändert. Ich finde es auch vernünftig, dass sich die Bevölkerung das Er-
gebnis einer Maßnahme erst einmal anschaut und dann ein Urteil darüber bildet. Ich glaube, das ist Ausdruck des Primats der Politik. Und an dem sollte auch festgehalten werden. – Wir können das auch im Hinblick auf aktuelle Entscheidungen der letzten Jahre – also in der Phase, die dieses Jahrbuch beschreibt – sagen: Hinsichtlich der Reform der Grundsicherung im Erwerbsleben – da-
ran haben wir immer noch zu arbeiten; wir sehen in den Befragungen hierzu zum Teil auch sehr schwierige Einschnitte um das Jahr 2004 herum –, bei der Rente mit 67, dem Afghanistan-Einsatz, der Rettung der Banken mit Milliarden Euro an Steuergeldern und vielem anderen mehr. Deshalb bin ich auch ganz gelassen, wenn ich mir anschaue, dass auch die Projekte der christlich-liberalen Koalition heute nicht sofort eine Mehrheit finden, zum Beispiel das energiepolitische Gesamtkon-
zept unter Einschluss längerer Laufzeiten der Kernkraftwerke, die Absage an flächendeckende ge-
setzliche Mindestlöhne, die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, die Kapitaldeckung in der Pflegeversicherung, das strikte Einhalten – obwohl die Zustimmung dazu wahrscheinlich noch am größten ist – der Schuldenbremse. Das alles kann sich die Politik nur vornehmen, wenn sie da-
von überzeugt ist und das Ganze auf dem Boden einer gefestigten Demokratie tut …“7

(zuletzt geändert am 9.10.2021)


1 Siehe die Bilder von der „abenddemo“ am 30. April von Andrea Naica-Loebell und „Abenddemo am 30.4. in München“.

2 Siehe „Eine distanzierte Betrachtung der Münchner Linken“.

3 Foto: Andrea Naica-Loebell

4 Siehe „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!“ und „Bayerisches Amtsgericht“.

5 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

6 Vgl. Abendzeitung 228/39 vom 2./3. Oktober 2010, 14; vgl. olgao89.blogsport.de.

7 https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-794788