Flusslandschaft 2010

Medien

Auf die Nachfrage, warum der öffentlich-rechtliche Sender in Bayern immer mehr Dudelfunk und daily soaps ausstrahle, erhielt der Verfasser dieser Zeilen die knappe Antwort: „Die Leute wollen
es halt so.“ Auf seinen Einwand, „und Ihr sorgt dafür, dass es die Leute so wollen“, kam dann: „Die Menschen haben ein Recht darauf, wenn sie müde nachhause kommen, abgelenkt und unterhalten zu werden.“

Abgelenkt und unterhalten, ja, mehr noch, zerstreut, besänftigt, irritiert und desorientiert — genauso funktioniert der beschönigte Laden. Einmal strampelt unsere Mehrheit in der Tretmühle von Arbeitssuche oder von Arbeit und Pflichten und Sorge um Gehaltsaufbesserung, wird dann in der sogenannten freien Zeit mit einem Spektakel unendlich vieler Konsumangebote konfrontiert, frisst sie in sich hinein, wird immer hungriger, während sie frisst, und kommt schließlich genau deshalb nicht auf den Gedanken, das eigene Tun zu hinterfragen, sondern plappert nach, was die angeblich vielfältigen Medien vorplappern:

S-Bahn-Station Harthaus am 24. Dezember 20101

Pressefreiheit ist, wenn in allen Medien dasselbe geschnattert wird. Etwa zehn Konzerne teilen sich bei uns die publizistische Macht. Ihre Redakteure („Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“) stimmen in den wesentlichen Punkten überein: Kapitalismus heißt „Soziale Marktwirtschaft“, Militäreinsät-
ze sind „humanitär“, die Kosten des Gesundheitswesens steigen „explosionsartig“, „Extremisten von links und rechts zerstören unser Gemeinwesen“, „Arbeitszeitverlängerung und nicht Arbeits-
zeitverkürzung überwindet die Arbeitslosigkeit“, „Privatisierung ist Befreiung von staatlicher Be-
vormundung“ … So brennen sich der Mehrheit der Bevölkerung die immer gleichen Denkfiguren ein.

Die Freiheit des Verlegers, Un- und Halbwahrheiten, garniert mit einigen Alibi-Wahrheiten, publizieren zu können, wiegt schwerer als die Unfreiheit des Belogenen. Manchmal denke ich, wenn man das Gegenteil dessen annimmt, was einem hier vorgesetzt wird, kommt man der Wahrheit näher. Aber das ist eine Täuschung. Deutungsmacht und Diskursvorgaben — im September dieses Jahres sind es die beinahe schon mehrheitsfähigen, sozialdarwinistischen Ergüsse des Herrn Sarrazin — besetzen Themen und drängen damit andere in den Hintergrund, blenden andere aus.

Der Stammtisch liest die Bild-Zeitung, leiert dann, wenn ernsthaft widersprochen wird, die Formel „Man wird doch wohl noch sagen dürfen …“ und schreit „Zensur“ ohne zu ahnen, wem er damit dient. Daher ist die Zensur der herrschenden Meinungskartelle längst überfällig.

Wir sollten doch eigentlich darüber sprechen, ob wir die zum Teil schon vollzogenen, vielfältigen Änderungen des Grundgesetzes befürworten oder ablehnen, wir sollten darüber sprechen, ob wir wollen, dass die Grenzen zwischen Geheimdiensten, Bundeswehr und Polizeibehörden Schritt für Schritt verschwinden, wir sollten darüber sprechen, ob wir damit einverstanden sind, dass die Grenzen zwischen Kapital und Staat zerfließen, sodass, um nur ein Beispiel zu nennen, Konzerne Gesetzesvorhaben formulieren. Wir sollten über so vieles sprechen. Aber wir diskutieren darüber, ob „Türken unser Volk dümmer machen“.


1 Foto © Volker Derlath

Überraschung

Jahr: 2010
Bereich: Medien

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