Materialien 1946

Was in der Verfassung steht ...

hört sich heute an wie ein Märchen

Das Gespräch führten Marion Lehmicke und Manfred Elstner am 11. Mai 1982.

Kuni und Richard, ihr seid im Jahr 1946 Mitglieder der Verfassunggebenden Landesversammlung gewesen. Wie kamt ihr dazu?

Kuni: Ja, da war zunächst einmal die Beratende Versammlung vom Februar bis Juni 1946, da hatte jede Partei eine Abordnung. Ich war Vizepräsidentin, Richard hat mich vorgeschlagen. Ende Juni war dann die Wahl zur Verfassunggebenden Landesversammlung, das war wie bei einer Landtags-
wahl, und die KPD bekam neun von insgesamt 180 Sitzen. In der Beratenden Versammlung war ich in zwei Ausschüssen.

Richard: Und nach den Wahlen zur Verfassunggebenden Landesversammlung waren Hermann Schirmer und ich im Verfassungsausschuss. Dort wurde der Verfassungstext entworfen, der an-
schließend vom Plenum Stück für Stück gebilligt werden musste.

Kuni: Wir haben ab 15. Juli 1946 in acht Plenarsitzungen getagt.

Wie war denn das Klima, das Verhältnis der einzelnen Parteien zueinander in dieser Zeit? Welcher Ton herrschte da während der Debatten?

Kuni: Ach, der Ton war recht manierlich. Es gab noch nicht die Gehässigkeit, wie sie sich dann später entwickelt hat. Zum Beispiel – nach den Sitzungen gingen wir immer rüber zum Essen ins Spatenbräu. Es war doch eine so schlechte Zeit damals, hast doch nichts zu essen gekriegt. Und ich war schon schwanger. Wie man das erstmals bemerkt hat, haben sie an meinem Tisch alle Nach-
speisen – Pudding oder Eis – zusammengerückt und vor mich hingestellt. Solche persönlichen Gesten waren damals noch üblich.

Richard: Auch die Tatsache, dass du in der Beratenden Versammlung Vizepräsidentin warst, zeigt doch, welch natürliche Wertschätzung gegenüber Kommunisten damals geherrscht hat, eben aus der Zeit des Kampfes gegen die faschistische Diktatur, gegen die wir Kommunisten so viel geleistet haben. Unter dem Eindruck des Schrecklichen, das hinter uns lag, war es selbstverständlich, mit Kommunisten zusammenzuarbeiten. Und auch sehr Konservative, wie Prittwitz-Gaffron – das war ein Adliger und bei der CSU -, hatten eine außerordentlich hohe Meinung von der Sowjetunion, waren für Freundschaft mit der UdSSR.

Die Debatte über das bayerische Staatswappen mag aus heutiger Sicht als kleine Randgeschichte erscheinen. Aber sie zeigt einerseits, dass wir wirklich ein tolerantes Verhältnis zueinander gehabt haben, andererseits auch, wohin die Kräfte des großen Kapitals drängten – wenn ihre Macht damals auch noch klein erschien, gebrochen war sie nicht. Und diese erzkonservative Auffassung kam in der Debatte um das bayerische Staatswappen zum Ausdruck. Da hatten die Heraldiker diesen Entwurf gemacht, der ja heute bekannt ist: mit den verschiedenen Regierungsbezirken samt den jeweiligen alten Wappen, die von den Adligen stammen. Als ich zu Wort kam, sagte ich, es sei doch wohl nicht sinnvoll, wenn man einen Neubeginn anstreben, einen demokratischen Staat gründen wolle, die Symbole dieser alten Feudalherren wieder in ein bayerisches Staatswappen zu übernehmen. Man solle doch Symbole aus dem Volk nehmen.

Da schrie der Hundhammer: „I woaß scho, wos’d wuist, Scheringer, Sichel und Hammer wuist ins bayerische Staatswappen eini doa.“

Ich habe ihm geantwortet: „Nein, Herr Hundhammer, es liegt mir fern, die Symbole eines befreundeten Staates nun ins bayerische Staatswappen zu übernehmen. Ich habe an Symbole
aus dem großen deutschen Bauernkrieg, wie den Bundschuh oder ähnliches, gedacht.“

Daraufhin wieder Hundhammer: „In Südbayern hat’s koan Bauernaufstand net geb’n!“

Darauf ich: „Ich weiß schon, was Sie sagen wollen, Herr Hundhammer: Unter dem Krummstab lebt sich’s gut.“

Damit hatte sich’s, und sie haben das bayerische Staatswappen so beschlossen, wie es heute ist. Nun gut, so ein Wappen ist nicht alles, aber es bedeutet doch etwas. Und wenn der Sozialdemokrat Hoegner auch noch auf den eigenen Staatpräsidenten für Bayern so großen Wert legte, so war das eben auch eine Art Separatismus, die in einer Linie lag mit den damals schon vorhandenen Absich-
ten, die Spaltung Deutschlands zu vollziehen.

Und damit kommen wir zu der Frage, die du, Kuni, ja miterlebt hast, zum Kampf um die Einheit Deutschlands – das heißt in diesem Fall um eine Festlegung in der Verfassung des Freistaates Bayern in Richtung auf eine kommende gesamtdeutsche Verfassung.

Wir haben gefordert, schon im Verfassungsausschuss, es möge an die Spitze des Verfassungswerks die Verpflichtung gestellt werden: Alle Artikel dieser Verfassung, die mit einer künftigen gesamt-
deutschen Verfassung in Widerspruch stehen, treten gegenüber der gesamtdeutschen Verfassung zurück. Gegen diese von uns geforderte Präambel kämpften alle bis auf Thomas Dehler von den Freien Demokraten; er hat sich auch mit aller Kraft für dieses Bekenntnis zu einer gesamtdeut-
schen Regelung eingesetzt.

Aber sonst waren wir die einzigen, Und ich hatte im Verfassungsausschuss gerade mit Hoegner einige sehr heftige Zusammenstöße. Das Interessante ist nun – daran wirst du, Kuni, dich erinnern – , dass zum Ende der dritten Lesung im Plenum Hoegner mit einem Zettel kam und rief: „Halt! Ich habe hier noch was. Die amerikanische Besatzungsmacht wünscht, dass wir in die Verfassung bei den Schlussbemerkungen einen Artikel einfügen, der besagt: Wenn es in den westlichen Besat-
zungszonen zu einem Bundesstaat kommt, treten die Bestimmungen der Verfassung des Freistaates Bayern, die in Widerspruch zu der künftigen Bundesverfassung stehen, zurück.“ So
also hatten sie damals schon Kurs auf die Spaltung Deutschlands, lange vor der Münchner Ministerpräsidentenkonferenz. Die platzte ja bekanntlich deshalb, weil die Teilnehmer aus den westlichen Zonen mit dem gebundenen Mandat kamen, nur über Fragen der Ernährung, des Verkehrs, der Nachrichtenübermittlung und ähnliches zu beraten, nicht über eine vorbereitende Arbeit zu gesamtdeutschen Problemen und Lösungen.

Der große Treiber der Spaltung Deutschlands war Adenauer, im Namen der alliierten westlichen Besatzungsmächte und der wiedererstarkenden deutschen Großbourgeoisie. Die sagte sich fürs erste: Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb. Und sie fürchtete, dass Texte, wie sie in den Länderverfassungen festlagen – in der hessischen Verfassung artikulierter als bei uns in Richtung auf eine antimonopolistische Entwicklung – , in einer gesamtdeutschen Ver-
fassung unter dem Druck der Massen erst recht zum Tragen kommen könnten.

Heute reden sie vom Offenhalten der deutschen Frage. Dass aber die Gründung der Bundesre-
publik der entscheidende Schritt der Spaltung war – die DDR wurde ja später gegründet -, das verschweigen sie ebenso wie die andere Tatsache: Die Einbeziehung der BRD in das westliche Paktsystem erweist sich heute, durch die Politik der US-Regierung und ihre Atomraketenrüstung, als tödliche Gefahr für unser Volk.

Kuni: Hermann Schirmer hat in seinen Reden ein paarmal auf das Potsdamer Abkommen hingewiesen und gesagt, dass auf diesem Fundament ein demokratischer Staat aufzubauen ist. Interessant ist übrigens doch auch die Eröffnungsrede von Hoegner am 15. Juli 1946: „Nach mehr als 13 Jahren verfassungsloser, schrecklicher Zeit ermöglicht es der politische Weitblick unserer Militärregierung dem bayerischen Volk, sich durch seine frei erwählten Vertreter wieder eine Verfassung zu geben. Sie soll zunächst eine bayerische Verfassung werden. Wenn es das Schicksal mit dem deutschen Volk gut meint, wird sie Vorläufer und vielleicht Vorbild einer künftigen deutschen Verfassung sein … Der Inhalt der künftigen Verfassung steht fest: Friede, Freiheit, Rechtssicherheit, Menschlichkeit und gegenseitige Hilfe. Das sind die Ideale, an denen sich das deutsche Volk aus seinem tiefsten Fall wieder aufrichten soll.“

Richard: Das deutsche Volk, nicht das bayerische Volk. Aber wenig später kam dann dieser besagte Zusatz von ihm, der in die Schluss- und Übergangsbestimmungen Eingang gefunden hat. Hier – Artikel 178: „Bayern wird einem künftigen deutschen demokratischen Bundesstaat beitreten.“ Oder Artikel 180: „Bis zur Errichtung eines deutschen demokratischen Bundesstaates ist die bayerische Staatsregierung ermächtigt …, mit Zustimmung des bayerischen Landtages Zuständig-
keiten des Staates Bayern auf den Gebieten der auswärtigen Beziehungen, der Wirtschaft, Ernäh-
rung, des Geldwesens und des Verkehrs an den Rat der Ministerpräsidenten der Staaten der US-Zone oder andere deutsche Gemeinschaftseinrichtungen mehrerer Staaten oder Zonen abzutreten.“ Da ist der Weststaat schon an die Wand projiziert.

Um das gleich zu sagen: Das war der Grund, warum unsere Fraktion gegen die Verfassung ge-
stimmt hat. Wir sahen in ihr die Vorbereitung zur Spaltung Deutschlands. Ludwig Ficker hat im Namen unserer Fraktion die Begründung für die Ablehnung formuliert: „Unser Bestreben war es, dem Volk eine wahrhaft demokratische Verfassung zu geben … Die jetzt vorliegende Form wider-
spricht diesen Grundsätzen. Statt fortschrittlicher Bekenntnisse zur Einheit Deutschlands Rückschritt zur kleinstaatlichen Enge.“

Kuni: Ich habe hier alle stenographischen Berichte von den Plenarsitzungen. Da ist zur Begründung der Ablehnung auch eine Rede von dir, Richard, enthalten:

„Ich möchte doch dem Ernst der Situation Rechnung tragen und hier noch einmal im Namen der Kommunistischen Partei erklären: Wir haben an diesem Verfassungsentwurf mitgearbeitet, es ist uns auch gelungen, einige fortschrittliche Gedanken einzubringen. Aber wir möchten eindeutig sagen, dass wir nicht mit Ihnen in einen Topf geworfen werden wollen, wenn spätere Geschlechter einmal den Stab brechen oder vielleicht lächeln über das, was hier aus einer kleinstaatlichen Engstirnigkeit heraus vollzogen worden ist. Ich glaube, dass wir dazu verpflichtet sind, und wir möchten auch noch einmal an unsere Genossen von der Sozialdemokratie appellieren, zu beden-
ken, wie sich das alles einmal auswirken kann, Denn wenn ein Stein ins Rollen gebracht ist, erhält er sein eigenes Gewicht. Und wenn hier ein Staat innerhalb der deutschen Nation konstituiert wird, dann erhält er seine Eigengesetzlichkeit und sein eigenes Gewicht. Diese platonische Liebe zu Deutschland, von der wir schon öfter sprachen, wird vielleicht eine platonische Liebe bleiben, und die Teile Deutschlands werden sich schließlich auseinanderentwickeln, was wir doch alle verhin-
dern wollen. Deshalb erklären wir noch einmal: Wir lehnen die Verantwortung und vor allem diese Verfassung ab.“

Richard: Das hat sich ja leider erfüllt. Denn der Kurs auf den westdeutschen Bundesstaat war ein Verhängnis, vor allem im Hinblick auf die Restauration und die Remilitarisierung.

War in der Verfassunggebenden Versammlung jemals von der Möglichkeit der Wiederbewaffnung die Rede?

Kuni: Nein. Alle sagten: Keinen Krieg mehr! Keine Wiederbewaffnung! Jeder betonte in seinen Reden: Das Schreckliche, das hinter uns liegt, darf sich nie mehr wiederholen.

Richard: In dieser Frage gab es damals wirklich eine Einheitsfront. Das Bekenntnis zum Frieden ist ein sehr markantes, sich durchziehendes Element der Verfassung des Freistaates Bayern. Das geht auch aus der Präambel der Verfassung hervor, aus Artikel 119 gegen Krieg und Völkerhass. Das liest sich ja heute wie ein Märchen: „Rassen- und Völkerhass zu entfachen ist verboten und strafbar.“

Welche anderen Fragen, neben den bereits erwähnten, waren euch noch besonders wichtig?

Richard: Ein wichtiges Anliegen war mir – oder besser gesagt: der Kommunistischen Partei, deren Fraktionsführer ich war – die Durchführung der Bodenreform. Einmal, um damit den Potsdamer Beschlüssen im Interesse einer Demokratisierung Genüge zu tun, zum anderen aber auch vom nationalen Standpunkt aus, um endlich ein Stück Geschichte zu bereinigen: Denn zweifellos wurden doch das Kaiserreich wie die Weimarer Republik und vor allem die nationalsozialistische Herrschaft wesentlich von den Großgrundbesitzern beeinflusst und getragen. Diese Kräfte haben doch Hitler an die Macht gebracht, neben den Herren von der großen Industrie. Das Ende dieser Diktatur forderte nun die Bereinigung – die Enteignung des Großgrundbesitzes über 100 ha und die Übergabe des Landes an die werktätigen Bauern. Es waren ja auch sehr viele Vertriebene da, die wieder Bauern sein wollten. Das also war mein Anliegen. Aber dafür hat die Kuni auch schon in der Beratenden Versammlung gekämpft. Ich weiß noch gut, Kuni, wie du dich meldest und fragst, was denn mit der Bodenreform sei. Dieser Großgrundbesitz sei eine Belastung für jede Demokra-
tie, ein feudaler Überrest, der noch nie in der deutschen Geschichte beseitigt worden sei. Und dann ist Nicklas aufgestanden: Ich warne doch sehr. Wir haben eine so prekäre Ernährungslage. Wenn wir jetzt den Großgrundbesitz auch noch aufteilen, haben wir gar nichts mehr zu essen.

Kuni: Ja, das war im Flüchtlingsausschuss. Da ging’s um die regionale Aufteilung und die Unterbringung der Flüchtlingsbauern. Und im nächsten Plenum hast du dann zu dieser Frage gesprochen. Anschließend sagte einer von der CSU: „Na, Herr Scheringer, Sie sind doch auch Gutsbesitzer. Ihnen würde es doch auch nicht gefallen, wenn man Ihren Hof aufteilen würde und Sie, ohne Entschädigung, Leute unterbringen müssten.“ Und dann – das war einmalig, das vergess’ ich nie – antwortest du: „Nun ja, wenn wir von meinem Hof sprechen: Ich habe auf meinem Hof zur Zeit 15 Flüchtlingsfamilien und ungefähr 30 Kinder.“ Da hat das ganze Haus geklatscht, das war eine wunderbare Situation. Du hattest deine Bodenreform schon lange durchgeführt – und
das ist auch von den anderen anerkannt worden. Der Frager war richtig beschämt. Der hatte ja gemeint, er könnte dir eins auswischen.

Richard: Ja, an der Bodenreform haben sie sich alle vorbeimanövriert, sie wurde von allen Seiten blockiert. Immerhin aber blieb etwas Interessantes übrig; denn es wurde später im Artikel 161 beschlossen: „Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von Staats wegen überwacht. Miss-
bräuche sind abzustellen.“ Hier wären ja noch Hebel, um etwas in Gang zu setzen. Weiter heißt
es dann – und das ist heute doch noch aktuell, wo die Mieten in den Himmel wachsen und die Bodenspekulation wuchert: „Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen.“

Ich sag’ ja immer: Die Verfassung liest sich heute wie ein Märchenbuch. Pass mal auf, wenn du das heute hörst: „Der Zusammenschluss von Unternehmungen zum Zwecke der Zusammenballung wirtschaftlicher Macht und der Monopolbildung ist unzulässig. Insbesondere sind Kartelle, Kon-
zerne und Preisabreden verboten, welche die Ausbeutung der breiten Masse der Bevölkerung oder die Vernichtung selbständiger mittelständischer Existenzen bezwecken.“ Hier war vor kurzem eine Demonstration, da haben die Kleinunternehmer Parolen mitgeführt wie „1.000 Pleiten in einem Jahr – jetzt sind wir da“. Diese Grundsätze in unserer bayerischen Verfassung warten doch dringend auf ihre Erfüllung. Aber das ist weniger eine Rechts- als eine Machtfrage.

Wir erlebten das auch bei der Gebietsreform. Wir haben in dem Artikel über die Gemeinden nach heftigen Kämpfen einen Antrag durchgesetzt, der lautet: „Die Selbstverwaltung der Gemeinden dient dem Aufbau der Demokratie in Bayern von unten nach oben.“ Das ist heute nicht mehr Verfassungswirklichkeit, weil durch die Gebietsreform von oben nach unten entschieden wird.
Es wurden Großgemeinden geschaffen, die Kreise wurden so gelegt, dass die CSU-Mehrheiten möglichst gesichert sind. Beispiel Ingolstadt: Ingolstadt war ein Ringlandkreis. Wir von der
KPD hatten damals zwei Kreistagsabgeordnete, zusammen mit den Sozialdemokraten und einer unabhängigen Wählergemeinschaft hatten wir die Mehrheit. Jetzt haben sie das alles zu einem großen Landkreis Eichstätt zusammengezogen, wo die CSU-Mehrheit vorprogrammiert ist. Den christlichen Bauern hat man als Trostpflaster die Kirchenräte in den kleinen Gemeinden gelassen; da herrscht jetzt statt der politischen Gremien der Kirchenrat.

Kuni: Wie sehr Verfassungsfragen Machtfragen sind, sieht man doch auch an dem Artikel über die Pflicht der Beamten zur Verfassungstreue. Zunächst hieß es, das gehöre nicht in die Verfassung, sondern ins Beamtenrecht. Ich weiß noch, wie sich Hermann Schirmer dafür eingesetzt hat, dass das in die Verfassung kommt: „Wir möchten anhand dessen, was wir 1933 erlebt haben, nicht noch einmal Gefahr laufen, dass undemokratische Kräfte im öffentlichen Dienst arbeiten.“ Hoegner, der zunächst auch nicht für diesen Artikel war, hat sich revidiert und gesagt: „Ja, ich musste 1933 auch sehr üble Erfahrungen mit der Polizei machen. So etwas darf nie wieder möglich werden.“ Der Artikel war als antifaschistischer Grundsatz gedacht. Und heute? Heute wendet man ihn gegen
die an, die sich am konsequentesten für die Verfassung einsetzen.

Ich bin ja im Arbeitsamt schon Anfang der fünfziger Jahre unter den Adenauer-Erlass gefallen. Ich hab’ mich gewehrt dagegen, hab’ den Revers nicht unterschrieben, sondern den Herren mitgeteilt: „Aus meiner Mitarbeit als Mitglied der Verfassunggebenden Landesversammlung im Jahr 1946 ist mir Sinn und Absicht der Verfassung vollkommen vertraut. Ich sehe deshalb in dem Ministerrats-
beschluss einen Eingriff in die verfassungsmäßigen Grundrechte und rufe den Verfassungsge-
richtshof zur Entscheidung an.“

Vom Verfassungsgericht bekam ich einen langen Schrieb, man müsse erst alle Instanzen durchge-
klagt haben, bevor es sich mit der Sache befasse. Das haben wir nicht gemacht. Aber unterschrie-
ben habe ich auch nicht. Andernorts sind Leute deshalb entlassen worden. Mir ist damals nichts passiert. Nach 20 Jahren, bei meinem Ausscheiden aus dem Arbeitsamt, hat mich der Direktor beiseite genommen: „Frau Schumann, jetzt hätt’ ich da noch was. Sie haben sich damals geweigert, diese Sache zu unterschreiben. Da es unmöglich ist, einen nicht gegengezeichneten und unter-
schriebenen Vorgang in Ihrer Personalakte zu belassen, bitte ich Sie: Nehmen Sie’s lieber mit.“ Nach 20 Jahren hat es ihn beunruhigt, dass er was Ununterschriebenes in meiner Akte hatte!

Unbequem war ich ihnen im Arbeitsamt natürlich schon. Zweimal wurde ich innerbetrieblich versetzt – ganz offensichtlich aus politischen Gründen. Ich war Leiter der weiblichen Vermittlungs-
abteilung. Einmal wollten sie mich von heut auf morgen nach Bad Kissingen versetzen. Da hat sich sogar der Nürnberger Stadtrat – ich war von 1946 bis 1956 im Stadtrat – dagegen verwahrt. Ein-
stimmig, auch im Ältestenrat, haben sie beschlossen, dass sie sich das nicht gefallen lassen. „Heute ist es die Frau Schwab – morgen ein anderer. Die ist mit siebenunddreißigtausend Stimmen gewählt, in ein demokratisches Gremium, und wenn die Bundesanstalt keine innerdienstlichen Vergehen nachweist, lassen wir unsere Leute nicht in die Wüste schicken.“ Der Stadtrat hat sich auch ein sechzehnseitiges Rechtsgutachten anfertigen lassen. Und der Rechtsrat, der die Stadt vertreten hat, war zufällig mein ehemaliger Pflichtverteidiger beim Sondergericht! Ausgerechnet der kriegt das zu bearbeiten. Das Gutachten, der Beschluss des Stadtrats, der Einspruch der Gewerkschaften – alles hat nichts genutzt. Die wollten mich unbedingt versetzen. Und ich wollte nicht weg, ich hatte doch zwei kleine Kinder – es war eine schlimme Zeit damals.

Mein Richard hat gesagt: „Du gehst. Merkst denn nicht – die wollen dich rausschmeißen. Die wollen, dass du die Arbeit verweigerst.“ Denn es lag ja im Direktionsrecht, einen mindestens mal vorübergehend woanders hinzusetzen. Da bin ich schließlich an einem Freitagnachmittag in Schweinfurt angetreten – Kissingen war eine Nebenstelle von Schweinfurt. Der Arbeitsamtsleiter dort war ein Kollege von mir aus der Verfassunggebenden Versammlung, Mitglied der CSU.
Der sagte: „Bei mir g’schieht Ihnen nix, Madle.“ Dann hat er mich nach Kissingen gefahren. Am Samstag früh, also am ersten Tag, an dem ich die Arbeit hätte antreten sollen, hat der Präsident von der Bundesanstalt anrufen lassen: Es sei ein Missverständnis, Frau Schwab könne zurück-
beordert werden. 1951, im Jahr der Volksbefragung gegen die Remilitarisierung, wär’s beinahe noch dicker gekommen. Da beschäftigte sich der Ermittlungsrichter mit mir wegen „Aufforderung zum Ungehorsam und Widerstand gegen die Staatsgewalt“ und dann, 1952, auch das Amtsgericht, allerdings nur noch wegen „Aufforderung zum Ungehorsam“. Auch das hab’ ich ohne Schaden überstanden.

Im Amt allerdings haben sie mich schon gezwiebelt. Sie haben mich dann in die Statistik gesetzt, als verantwortlicher Statistiker. Vorher hatte ich 43 Leute in meiner Abteilung, in der Statistik saßen wir zu dritt. Das wollten sie ja, um mir die Kontakte zu den Kollegen möglichst zu erschwe-
ren.

Sag mal, Kuni, wie viele Frauen waren denn eigentlich in der Verfassunggebenden Versammlung?

Kuni: Sechs Frauen waren wir.

Richard: Von 180 sechs Frauen! Das war mir so gar nicht bewußt.

Kuni: Ich hab’ da ein Buch von der Frauenrechtlerin Mabry: „Unkraut ins Parlament“. Horlacher sagte nämlich einmal: „Als einzelne wirkt die Frau wie eine Blume im Parlament, aber in der Masse wie Unkraut.“ In dem Buch schreibt die Autorin, die mich später einmal aufgesucht hat: „Seit dem Jahr 1946 ist hier noch keine Frau in eine Spitzenposition vorgedrungen … Lediglich in den drei Monaten des Bayerischen Beratenden Landesausschusses war das Amt der Vizepräsidentin mit der Kommunistin Schwab-Schumann besetzt.“ Und Richard wird da in Sachen Frauenrechte auch lobend erwähnt: „In den Bemühungen um eine prozentual höhere weibliche Vertretung im Senat wurden die Frauen lediglich von dem Abgeordneten Scheringer (KPD) unterstützt. Alle anderen Parteien weigerten sich, der Frau eine angemessene Vertretung kraft Satzung zuzusichern.“

Das ist ja auch der Grund, warum da so einiges reingerutscht ist in die Verfassung, wenn es um die Rechte der Frau geht. Da habt ihr, der Hermann und du, auch einmal geschlafen. In Artikel 118 heißt es: „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Dieses „grundsätzlich“ bedeutet ja schon wieder eine Einschränkung.

Das haben wir zu spät bemerkt. Ich hab’ dazu zwar noch gesprochen: „Meine Fraktion hat bereits im Verfassungssausschuss bei den Vorbereitungen des Art. 118 einen Antrag eingebracht und begründet, der eine Präzisierung der Rechte der Frau verlangt. Ich komme heute hier an dieser Stelle wieder auf diesen Punkt zurück, zu dem mir ein Ersuchen des süddeutschen Frauenarbeits-
kreises vorliegt. Ich komme diesem Ersuchen gerne nach, weil es eine Wiederholung unserer bereits beantragten Formulierung darstellt, und ich möchte Sie für diesen neuen Antrag um Ihre Zustimmung bitten. Es soll in Art. 118 nicht nur wie bisher von ,grundsätzlich’ gleichen staats-
bürgerlichen Rechten und Pflichten der Frau die Rede sein, sondern der Absatz soll nach unserem Antrag lauten: Das Gesetz garantiert der Frau auf allen Gebieten gleiche Rechte wie dem Mann.“ Aber da war es schon zu spät, da hielt man dagegen, der Artikel sei schon abgeschlossen.

Richard: Darum haben wir wohl unzureichend gekämpft.

Kuni: Ja, wir haben das zunächst übersehen, ebenso wie die Bestimmung im Artikel über die Bildungsziele (Art. 131), wonach nur „Mädchen in der Säuglingspflege, Kindererziehung und Hauswirtschaft zu unterweisen sind“.

Aber in dem Artikel über gleichen Lohn für gleiche Arbeit haben wir nach langen Auseinander-
setzungen das Wort „grundsätzlich“ rausgekriegt. Am 19. September 1946 habe ich im Plenum
der Verfassunggebenden Versammlung dazu gesprochen:

„Ich freue mich aufrichtig, dass die Genossen von der Sozialdemokratischen Fraktion, die im Vorausschuss zweimal gegen unseren Antrag gestimmt haben, heute ihre Ansicht revidiert und einen gleichlautenden Antrag eingebracht haben, der den Frauen vorbehaltlos gleiche Rechte zubilligt. Es liegt nun, meine Herren Abgeordneten der CSU, nur noch an Ihnen, inwieweit Sie
sich anschließen wollen … Hier wäre eine Gelegenheit, es nicht bei schönen Versprechungen und mitleidigen Worten zu belassen, sondern klar und deutlich das Kind beim richtigen Namen zu nennen und vorbehaltlos den Rechten der Frau zuzustimmen. Bei der Überzahl der Frauen und dem besonderen Schicksal, das die Frauen hinter sich haben, ist gleiche Entlohnung bei gleicher Arbeit bestimmt eine gerechte Forderung. Ich glaube, wir können hier eine Übereinstimmung herbeiführen und dadurch den Frauen auch das nötige Vertrauen zum neuen Staat abgewinnen. Denn bisher war es ja immer die Frau, die enttäuscht wurde.“

Wir haben den Artikel 168 so durchsetzen können, wie er heute in der Verfassung steht. Anschlie-
ßend habe ich mich auch im Nürnberger Stadtrat dafür eingesetzt, dass die städtisch Bediensteten gleichen Lohn für gleiche Arbeit bekommen. Ich bin damals durch mein Eintreten für die gleichen Rechte der Frau in Nürnberg sehr bekannt geworden. Damals gab’s noch die offenen Straßenbahn-
wagen, auf die man aufspringen konnte. Und oft, wenn ich mal wieder der Straßenbahn nachgelau-
fen bin, hieß es: „Halt, die Kuni kommt. Die müssen wir schon noch mitlassen.“ Also, bei den Straßenbahnern hatte ich wirklich einen Stein im Brett.

Kuni, wie sah das in Nürnberg aus mit den Bestrebungen zur Aktionsgemeinschaft SPD/KPD? In München gab es ja solche Absprachen, die dann auf zunehmenden Gegendruck der Besatzungsbe-
hörde stießen.

Kuni: Es gab zunächst bis Februar 1946 einen Vierparteienausschuss, da hat auch die CSU mitge-
arbeitet. Dort haben wir uns mit solchen Dingen wie Wohnungsvergabe, Stellenbesetzung der öffentlichen Ämter mit Antifaschisten bzw. mit unbescholtenen Leuten, mit Ernährungsfragen und ähnlichem beschäftigt. Es gab aber keine festen politischen Abmachungen wie in München. Uns haben sie immer die unangenehmsten Ämter gegeben. Das Wohnungsamt wurde von Kommuni-
sten geleitet, als es nahezu keine Wohnungen gab. Vorsitzende der Entnazifizierungsausschüsse waren von der KPD, bis wir gemerkt haben, wie das in der falschen Richtung läuft: dass die Kleinen drangenommen und die Großen laufen gelassen werden.

Richard, du beschreibst in dem Buch „Das Jahr 1945“ Aktionseinheitsbestrebungen von Kommunisten und Sozialdemokraten im Raum Ingolstadt. Wie gedieh diese Zusammenarbeit später?

Richard: Bis 1950 hatten wir im Kreistag sehr gute Kontakte mit den Sozialdemokraten. Nach der zweiten Kreistagswahl hat sich das geändert. Da hatten wir zwei Abgeordnete reingebracht, einer davon war ich. Wir berieten mit den Sozialdemokraten in ihrem Raum und hatten schon beschlos-
sen, eine gemeinsame Fraktion zu bilden; dann hätte die SPD einen Mann mehr in den Ausschuss bekommen, und das wäre ja gegenüber der CSU von Bedeutung gewesen. Das war also alles fix
und fertig. Dann tritt das Plenum zusammen, da erhebt sich der damalige Sprecher der SPD und erklärt, die SPD mache keine Aktionsgemeinschaft mit den Kommunisten. Daraufhin schreit der Pfarrer von Zuchering, der bei der CSU war: „Scheringer, mach halt mit uns a Fraktion!“ Die hätten den zusätzlichen Platz im Ausschuss schon genommen.

Wo die Gemeinsamkeit trotz aller Unterschiede oder Gegensätze am längsten Bestand hatte, das war in der Sache des Friedens. Wäre das Friedensgebot der Bayerischen Verfassung oder später des Grundgesetzes verwirklicht worden, wir hätten heute eine andere Situation. Um so notwendi-
ger bleibt nun in den achtziger Jahren die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Kräfte für Frieden und Abrüstung. Ich weiß noch gut, wie mich mein Sohn Richard nach der Volksbefragung und unseren Aktionen gegen die Remilitarisierung angesichts der weiteren Vorstöße der Adenauer-Regierung in Richtung Aufrüstung und NATO gefragt hat: „Und jetzt, was ist jetzt?“ – „Ja, was soll sein“, hab’ ich ihm geantwortet, „weiter geht’s, jetzt erst recht!“

Kuni Schumann-Schwab und Richard Scheringer


kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 1/1987, 148 ff.

Überraschung

Jahr: 1946
Bereich: Bürgerrechte

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