Materialien 1946

Rücksichtslosigkeit …

sagte ich in mich hinein, als ich dieser Tage meinen Freund Hans-Friedrich auf der Straße traf. Ich kenne Hans-Friedrich aus seinem uniformierten Leben, als er noch schmucker Panzerleutnant war und das Kriegsverdienstkreuz trug. Rücksichtslosigkeit, einem so die Hand zu drücken.

Doch dann fragte ich auch schon: Wie geht’s? Was treibst du denn? Schon aus Neugierde fragte man. Hm! Hans-Friedrich lächelte ölig. Ich mache derzeit in Graphologie! Mein Erstaunen und mein Interesse wuchs. Und du verhungerst nicht? Nein, weshalb denn. Ich habe täglich minde-
stens 20 Aufträge. Jeder Auftrag bringt mindestens 10 RM, da lässt sich schon leben. Das Geschäft floriert glänzend. Aber du bist doch gelernter Buchhalter, wie kannst du Handschriften deuten? Das ist doch Betrug. Wie beruhigst du denn nur dein Gewissen? Ach – das Gewissen! Hans-Fried-
rich lächelte versonnen. Das ist nicht so einfach. Es wird rücksichtslos unterdrückt. Ich halte es
mit Lenin. Der sagte zu seinen Lebzeiten einmal: Rücksichtslosigkeit bis zum äußersten ist unsere Pflicht; in der Erfüllung dieser Pflicht ist Grausamkeit das höchste Verdienst! Außerdem bin ich einer politischen Partei beigetreten. Tue desgleichen, Darling!

Doch ich muss gehen. Die Aktentasche von der einen in die andere Hand wechselnd, verabschie-
dete sich mein Freund Hans-Friedrich, ohne mir Zeit zu lassen, das Leninsche Zitat in Zweifel zu ziehen.

……. ist

das nicht seltsam, dachte ich beim Weitergehen. 6 mal 20 mal 10 = 1200 RM. Aufgeschnitten hat er wohl auch ein wenig. Doch immerhin! Schade, dass ich vergaß, Hans-Friedrich nach seiner Privatadresse zu fragen. Vielleicht hätte er mir durch eine Handschriftenanalyse ergründet, warum ich nie eine Mark zuviel im Geldbeutel habe.

Während ich in Gedanken versunken weitergehe, treffe ich Margot. Sie ist ein hübsches Mädchen, und man sieht’s ihr nicht an, dass sie über vier Jahre lang auf einem deutschen Lazarettschiff Krankenschwester war.

Hallo, Anny! Ich hab’s eilig, bin eingeladen. Ganz toller Laden. Und großartige Jungens. Du amüsierst dich schrecklich gut. Und zum Schluss gibt es immer so nette kleine Präsentchen.
Das alles wurde von ihr blitzschnell heruntergehaspelt.

Ja – aber – dein Gatte? Schüchtern frage ich dazwischen.

Ach, weißt du, mein Mann! Seit er Schriftführer bei einer politischen Partei geworden ist, kennt er gar nichts mehr anderes. Ich darf nur das Essen kochen – dann ist es aber schon aus. Rücksichtslos entschuldigt er seine Nachlässigkeit mir gegenüber mit der Pflicht gegenüber der Partei. Ich will damit nicht sagen, dass wir keine Vorteile daraus ziehen. Vielleicht hat er schon recht. Heutzutage sind ja alle rücksichtslos. Also – warum soll nicht auch ich am Rande der ehelichen Treue abends tanzen gehen. Man hat ja sowieso nichts vom Leben. Ohne eine Äußerung meinerseits auf diese problematischen Feststellungen abzuwarten, fuhr sie fort: Gehst du mit? Freundschaftlich – selbstverständlich bat sie mich, sie zu einer abendlichen Partie zu begleiten.

Ich lehnte es ab. Rücksichtslos unhöflich!

Dann machte ich noch einen Sprung zu meinem Möbelhändler . Er war allein in seinem Büro. Seit einiger Zeit besitze ich einen Bezugschein auf einen Tisch, und er versprach mir, einen zu liefern.

Auch ich bin jung – immer noch verhältnismäßig gut gekleidet und nicht allzu hässlich. Seit so schlechte Zeiten sind, versuche ich die Dinge psychologisch auszuwerten.

(Begrenzt natürlich.)

Unsere Pflicht!

ist es, jeden Kunden reell zu bedienen, aber was glauben Sie, wieviel Leute Tische wollen. Wieviel Leute überhaupt jeden Tag etwas von mir wollen. Es ist wie in einem Tollhaus. Wo käme man da hin, wenn man sich nicht rücksichtslos an die eigenen Richtlinien halten würde. Aber wissen Sie was, gedankenvoll starrte er auf meine Hauchdünnen, Größe 8½. Mir ist da etwas eingefallen.

Während sich seine Äuglein vor Geilheit schier verkugeln, macht er mir den Vorschlag, ihn morgen abend zu besuchen. Seine Frau sei verreist, und er wollte sehen, dass er noch einen Tisch freima-
che. Vielleicht auch noch einen Polstersessel. Man wird sehen. Ist ja alles ganz ehrbar. Bis auf die Glotzaugen. Dann blicke ich ihn an, und meine Züge werden bis zum äußersten grausam.

Für was halten Sie mich eigentlich? Haben Sie schon einmal etwas von Lenin gehört? brülle ich ihn an.

Vor Angst schlotternd, haucht er: nein; denn er war Pg. und ist noch nicht entnazifiziert.

Hrrrrh – Es war ja gar nicht so gemeint, stammelte er.

Beim Gehen brüllte ich ihm zu: »Treten Sie einer politischen Partei bei!«

Als ich aus dem Laden trete, ist es Mittag.

An den Straßenbahnen hängen Menschentrauben. Ich zwänge mich in einen der überfüllten Wagen. Empörte Blicke ringsum. Rücksichtslosigkeit ist unsere Pflicht, zitiere ich in mich hinein und lächle müde.

Anna Maria Sora
Der Ruf 6 vom 1. November 1946


Hans A. Neunzig, Der Ruf. Unabhängige Blätter für die junge Generation.
Eine Auswahl, München 1976, 139 ff.

Überraschung

Jahr: 1946
Bereich: Medien

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