Materialien 1946

Auf Grundlage der Direktive Nr. 24 ...

vom 12. Januar 1946 und deren Richtlinien für die politische Bereinigung von Ämtern und verant-
wortlichen Stellen wurde am 5. März 1946 das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus erlassen. Vorgesehen waren ein Sonderministerium, das schon seit dem 22. Oktober 1945 von dem engagierten Gewerkschafter Heinrich Schmitt aufgebaut wurde, die Einrichtung von Spruchkammern, Berufungskammern und eines Kassationshofs.

Ganz verhindern konnte man nicht, daß der Bock zum Gärtner gemacht wurde: „Das USA-Militär-
hauptquartier in München gab zu, daß in Bayern sechzig Prozent der Richter und sechsundsiebzig Prozent der Ankläger bei den Spruchkammern ehemalige Mitglieder der Nazipartei waren.“1

Die Beurteilung im Verfahren hatte das Schema von fünf Kategorien zur Grundlage. Deutsche Mitwirkung war vorgesehen, aber erst mit dem Erlaß des Betriebsrätegesetzes vom 10. April 1946 und der 5. Durchführungsverordnung vom 30. April 1946 wurden die Betriebsräte zur Mitarbeit herangezogen. Ihnen wurde die beste Kenntnis ihrer Belegschaftsmitglieder zugetraut. Wenn sie in einer Verhandlung nicht gehört wurden, konnten sie gegen einen Entscheid, der einen Angehöri-
gen ihres Betriebes betraf, Einspruch erheben. Wurden Betriebsräte bei Verhandlungen übergan-
gen, konnte die Militärregierung die Verhandlungen annullieren.2

Schließlich waren die Betriebsräte verpflichtet, eine auch vom Arbeitgeber zu unterzeichnende Liste sämtlicher Arbeitnehmer mit Hinweis auf eine eventuelle politische Belastung im Betrieb öffentlich auszuhängen und an die zuständige Spruchkammer weiterzuleiten.3

Schon bald hieß es: „Die Kleinen fängt man, die Großen läßt man laufen.“ Bruno Goldhammer (KPD) beklagte, daß sich u.a. der zur Sühneleistung verurteilte Fritz Deckel, Chef der Deckel-Wer-
ke
, durch Rechtsanwälte vor dem Arbeitsamt wegen Arbeitsverweigerung vertreten lasse, daß der Pg und Millionenspender der NSDAP Kommerzienrat Sedlmayer immer noch Generaldirektor des Spaten-Franziskaner-Leistbräu und der ehemalige SS-Führer Lehner immer noch Fuhrwerks-
unternehmer sei.4

Georg Fischer (KPD), vom 17. Januar bis 8. Juni 1946 Staatssekretär im Wirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard, erstellte eine Untersuchung über führende Beamte seines Ministeriums. „Vom Blutordensträger des Hitlerputsches vom November 1923 bis zum Rüstungsbeauftragten
der Hitlerschen Kriegswirtschaft war alles vertreten.“5 Eine Zusammenstellung von etwa dreißig ehemaligen Nazis übergab Fischer dem Alliierten Kontrollrat in Berlin, Wilhelm Hoegner, Erhard und und dem Gewerkschafter Gustav Schiefer. Anfang Juni wurde er plötzlich und ohne Begrün-
dung als Staatssekretär entlassen.

Bis zum 5. März 1946 entließ die Militärregierung bei der Bahn ohne Rücksicht auf den Grad der Belastung eine so große Zahl von Mitarbeitern, daß zum Teil der Bahnbetrieb eingestellt werden mußte. Eine größere Anzahl stärker Belasteter konnte dennoch bei der Bahn bleiben. Nach Pro-
testen durch Vertreter der Eisenbahngewerkschaft verfügte die Militärregierung eine generelle Entlassung aller Belasteten. Die Folge aber wäre ein völliger Zusammenbruch des Bahnbetriebs gewesen. Da das Entnazifizierungsgesetz für Belastete einfache Arbeit ermöglichte, erwartete die Gewerkschaft eine Revision der Maßnahmen der Militärregierung.6

Am 2. Juli 1946 forderte der gewerkschaftliche Zonenausschuß für das amerikanisch besetzte Gebiet eine konsequentere Entnazifizierung. Belastete dürften keine „Funktionen in wirtschaft-
lichen Vereinigungen der Unternehmer und der Arbeitnehmer sowie als Betriebsräte usw. ausüben.7

Ehemalige Nationalsozialisten suchten auch Unterschlupf bei den Gewerkschaften. Der führende bayerische Gewerkschafter Georg Reuter persönlich beschied am 27. August 1946 den ehemaligen „Amtsleiter im Stabe des Stellvertreters des Führers der NSDAP, Oberführer in der SA und Stan-
dartenführer im NSKK, Gruppe Hochland“, Eberhard von Conta, abschlägig und ließ den Brief in der Gewerkschaftszeitung veröffentlichen.8

Urban Krinko, ehemaliger DAF-Funktionär, versuchte über Clarence M. Bolds, Manpower Divi-
sion, beim Bayerischen Gewerkschaftsbund (BGB) unterzukommen. Reuter lehnte dies ab.9 Die Aufdeckung der ehemaligen NSDAP- und SS-Mitgliedschaft des Bad Reichenhaller Gewerkschafts-
funktionärs Karl Schneider im April 1947 veranlaßte Reuter, „sobald als möglich in eine besondere Prüfung aller Angestellten der Bayerischen Gewerkschaften einzutreten.“10

Dem Antrag auf dem Gewerkschaftskongreß vom 13. bis 15. Juni 1946, daß kein Pg Gewerkschafts-
mitglied werden dürfe und daß bei Anstellung im Beruf vor einem auch rehabilitierten Nazi ein Antifaschist immer Vorrang habe, wurde durch die starke Fraktion der nordbayerischen Gewerk-
schaften abgelehnt. Auf dem Kongreß wurde kolportiert, diese hätten sogar Pgs von 1933 aufge-
nommen.11

Im September 1946 war die Einrichtung der Spruchkammern in Bayern abgeschlossen, im November forderte der BGB den Posten eines Staatssekretärs im Sonderministerium sowie Änderungen in Verfahrensregeln wie den Ausschluß von Rechtsanwälten, die Pgs waren, Eindämmung der Persilscheinflut, die vor allem durch frühere Pgs und kirchliche Kreise hervorgerufen wurde, schließlich den Schutz von Belastungszeugen.12 Am 27. November 1946 verlangten die fünf Gewerkschaftsvertreter im politischen Beirat des Sonderministeriums, die Entnazifizierung auf Hauptschuldige der Klasse I und Aktivisten des Naziregimes (Klasse 11) einzugrenzen und außerdem größeren Einfluß der Gewerkschaften in Ministerien.13

Die bayerischen Gewerkschaften sprachen dem Sonderminister Alfred Loritz von der Wirtschaft-
lichen Aufbauvereinigung im Kabinett Dr. Ehard (21. Dezember 1946 bis 20. September 1947) wiederholt ihr Mißtrauen aus, nachdem er den Beirat im Sonderministerium aufgelöst hatte.14 Berichten zufolge soll Loritz bei in Arbeitslagern internierten Pgs als Beschützer der Nazis gefeiert worden sein.15 Auch der Loritz beigeordnete Staatssekretär Arthur Höltermann (SPD und Vertrau-
ensmann der Gewerkschaften) konnte die zum Teil chaotischen Verhältnisse im Ministerium nicht korrigieren. Loritz wurde am 24. Juni 1947 entlassen. Sogleich erhoben die Gewerkschaften wieder ihren Anspruch auf Miteinbeziehung ins Ministerium.16 Mit Loritz’ Nachfolger Dr. Ludwig Hage-
nauer änderte sich jedoch nicht viel.

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1 George S. Wheeler, Die amerikanische Politik in Deutschland (1945 – 1950), Berlin (DDR) 1958, 162.

2 Vgl. Gewerkschaftszeitung (GZ) 4/1946, 16.

3 Vgl. GZ 8/1946, 11 f.

4 Vgl. Niederschrift der 2. Tagung des Bayer. Beratenden Landesausschusses am 9. April 1946 im Bayerischen Hof, München, 39 ff., Monacensia.

5 Georg Fischer, Vom aufrechten Gang eines Sozialisten, Berlin/Bonn 1979, 210.

6 Vgl. GZ 4/1947, 4.

7 GZ 1/1946, 6.

8 Vgl. GZ 2/1946, 12.

9 Vgl. Reuter an Bolds, Manpower Division, am 30. Mai 1947, OMGBY 13/36-1/3, BayHStA.

10 Reuter an OMGBY vom 8. April 1947, 1 f., OMGBY 13/36-1/5, BayHStA.

11 Vgl. Embacher zu L. Sternberg, in L. Sternberg an Lt. Peter G. Harnden (ICD) am 19. Juni 1946, OMGBY 10/110-2/13, BayHStA.

12 Vgl. Protokoll der Besprechung mit Vertretern des BGB beim bayer. Ministerpräsidenten am 13. November 1946, Nachlass Anton Pfeiffer, Box 120, BayHStA Abt. V.

13 Vgl. Memorandum des Vorläufigen Ausschusses der Bayerischen Gewerkschaften vom 27. November 1946, Nachlass Anton Pfeiffer, Box 120, BayHStA Abt. V.

14 Vgl. Schreiben des Vorläufigen Ausschusses der Bayerischen Gewerkschaften vom 18. Februar 1947 an Dr. Hans Ehard, Nachlass Pfeiffer, Box 120, BayHStA Abt. V.

15 Vgl. Vormerkung vom 21. Februar 1947, Schreiben von Reuter an Ehard vom 27. Februar 1947 und Vormerkung für Ehard vom 6. März 1947, Nachlass Pfeiffer, Box 120, BayHStA Abt. V.

16 Vgl. GZ 13/1947, 6.


Günther Gerstenberg, Trümmer, Hunger, Solidarität. Gewerkschaften in München von 1945 bis 1950, Münchner Skizzen 2, München 1997, 38 ff.

Überraschung

Jahr: 1946
Bereich: Nazis

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