Materialien 1946
Die offene Art ...
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2. Januar 1945:
Die offene Art, in der in den USA Geld Ansehen und sozialer Wert bestimmt wird, wäre in Europa selbst nach diesem Kriege undenkbar. So schildert LIFE in der letzten Nummer die Einführung
der Millionärstöchter in die Gesellschaft. Fette Leutnants umstelzen die weißberobten Gänschen, neben deren Namen jeweils vermerkt wird, womit der Vater sein Vermögen erworben hat. Henry Louis Mencken stellt fest: „Geschäftserfolge bringen in den USA höheres Ansehen als jede andere Art menschlicher Betätigung.“
Vielleicht ist dies nicht einmal ein so großes Übel, wie es uns eingeredet worden ist. Macht an
sich, losgelöst von Tradition und Sitte, Macht als krankhafter Größenwahn führt jedenfalls zu weit schrecklicheren Folgen, wie wir gerade erlebt haben. Wahrscheinlich machen wir es uns zu billig mit unserem Hochmut gegenüber dem Gelde.
29. Januar 1946:
Nun habe ich sechs Wochen, wenn auch nur am Rande, den inneren Betrieb einer amerikanischen Kampfeinheit kennen gelernt. Vorangegangen waren fast sechs Jahre Wehrmachtserfahrungen. Was mir an den Amerikanern gefällt, ist ihr gelassener Umgangston. Sie sprechen ruhig miteinan-
der und wer höheren Ranges ist, fühlt sich darum noch nicht besser als sein Untergebener. Auch wenn einer gefehlt hat, wird er nie roh oder verächtlich behandelt. Sie halten nichts von künstli-
chen Schranken, die bei uns eine so große Rolle gespielt haben. Sie schonen den Nächsten und lassen ihm weitgehender als wir seine Ruhe. Dennoch können sie in der Durchsetzung ihrer Befeh-
le recht strikt sein. Aber ihre Strenge ist stur, nicht anmaßend. Auch diese Züge erklären einen Teil ihrer Erfolge in der Welt, nicht nur die materielle Überlegenheit allein, die ihnen ja nicht in den Schoß gelegt worden ist, sondern auch eine Frage des menschlichen Zusammenspiels, der Auslese, der Organisation war.
Heute war das Radio-Gegröhle wiederum besonders widerlich. Unter den Dingen, die gegen sie sprechen, zählt für mich ihre Gebrauchsmusik. Was für eine abscheuliche Leere und Stumpfheit muss man in der Seele haben, um an dieser Geräusch-Gemeinheit und -Obszönität Gefallen zu finden! Ist darin nicht die Grässlichkeit der Materialisierung des Glaubens an den Gelderfolg, an die stumpfe Raffsucht des Zivilisationsproleten Ton geworden? …
Karl Jering, Überleben und Neubeginn. Aufzeichnungen eines Deutschen aus den Jahren 1945/46, München/Wien 1979, 89 ff.