Materialien 1948
Im Juni 1948 ...
als Gerhard Schieche nach seiner Exkursion nach Oberfranken zurück ins „Dulag“ Dachau
kam, war das Interesse der Amerikaner an der Verfolgung von Kriegsverbrechern und an der Entnazifizierung schon ziemlich abgeklungen. Im Dulag hatten sich die Lebensbedingungen verschlechtert. Die Ernährung und die medizinische Versorgung waren mangelhaft, es gab nur einen Wasserhahn für 200 Bewohner, die Toiletten „spotten jeder Beschreibung“, schrieb der SPD-Landtagsabgeordnete Piehler nach einer Besichtigung. „Das Lager der Verzweifelten“, „einen Wartesaal ohne Hoffnung“ nannten Zeitungsberichte diesen Ort. Im August 1948 regte sich Protest unter den Bewohnern. Egon Herrmann, ein Schriftsteller aus Brünn, der als Student Vorlesungen bei Sigmund Freud gehört hatte, organisierte im September 1948 einen Hungerstreik, an dem sich auch Gerhard Schieche beteiligte. Er weiß noch, wie der Hunger so an ihm nagte, dass er in einer Dachauer Bäckerei um Brot bettelte. Dankbar erinnert er sich des Bäckermeisters, der ihm einen ganzen Laib schenkte.
Der Protest griff rasch um sich, Bewohner anderer bayerischer Flüchtlingslager solidarisierten sich mit den Dachauern, Rundfunkanstalten und Zeitungen berichteten auch im Ausland. Die Bayeri-
sche Staatsregierung reagierte ziemlich prompt. Die Verpflegungsrationen wurden von 1850 auf 2150 Kalorien pro Tag angehoben, ein monatliches Taschengeld wurde gewährt. Vor allem aber forcierte Wolfgang Jänicke, der Staatsbeauftragte für das Flüchtlingswesen, die Suche nach anderen Quartieren für die Flüchtlinge. Und was lag näher, als die Baracken des ehemaligen Konzentrationslagers für diesen Zweck zu benutzen, die ohnehin schon zum Teil leer standen,
weil die Amerikaner immer mehr Internierte entlassen hatten?
Anfang Juli entschied der Alliierte Kontrollrat, dass das Internierungslager am 31. August geschlossen werden sollte. Einer Nutzung als Flüchtlingslager stand also zumindest technisch nichts im Weg. Irgendwelche Skrupel, die ehemaligen KZ- Baracken in Flüchtlingsunterkünfte umzuwandeln, hatte offensichtlich niemand, jedenfalls niemand in den Behörden, die darüber zu entscheiden hatten. Nur der katholische Pater Basilius Neubauer erhob in einem Brief an den bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard Einspruch gegen die Nutzungsänderung: „Das KZ wird mehr oder weniger fortgesetzt“, schrieb der Geistliche, „der Ausbau der KZ-Baracken stellt eine Totgeburt dar.“ Und so rückten die Bauarbeiter im ehemaligen KZ an. 67.000 Quadratmeter Trennwände wurden eingebaut, 1.800 Türen eingehängt, 500 Einzeltoiletten installiert. In einer der 32 Baracken wurde eine Schule eingerichtet, in einer anderen eine Gaststätte, zwei Baracken enthielten Schlafsäle für alleinstehende Männer. Die restlichen Baracken wurden in je 24 Wohn-
einheiten aufgeteilt – 16 mit zwei Räumen für drei- und vierköpfige Familien, acht mit nur einem Zimmer für zwei Personen.
Im Lauf der Zeit siedelten sich Einzelhandelsgeschäfte aller Art an – Lebensmittel, Bäcker, Metz-
ger, Tabakwaren, Kurzwaren, eine Drogerie, zwei Friseure, drei Ärzte und ein Zahnarzt. Es gab einen evangelischen Kindergarten und einen katholischen Kinderhort, eine Bücherei, einen Kino- und Tanzsaal. Die „Wohnsiedlung Dachau-Ost“, wie das ehemalige KZ jetzt genannt wurde, war eine kleine Stadt für sich. Aber sie war noch immer umgeben von Mauern, Wassergraben und den ehemaligen Wachtürmen des Konzentrationslagers.
Hans Holzhaider
Joachim Käppner/Robert Probst (Hg.), Befreit. Besetzt. Geteilt. Deutschland 1945 – 1949, München 2006, 116 f.