Materialien 1948

Hungermärsche - Hungerstreiks

Bis Ende 1946 wurde in Bayern nur ein Streik registriert. „Strikes and lockouts were prohibited;
if they compromised security or any policies of military government.“1

Die Ernte des Sommers 1947 war schlecht. Die Gewerkschaften warnten die Bayerische Staatsre-
gierung, und erste Streiks flackerten im Winter 1947/48 vor allem in größeren Städten Bayerns auf: Seit August 1947 hatte sich die Versorgungslage in München gebessert, zu Beginn des No-
vembers wurden die Zuteilungen aber wieder schrittweise gekürzt, so dass die Belegschaft der Reichsbahndirektion am 8. November 1947 für drei Tage die Arbeit niederlegte. „The KPD considers this strike was a success, and this headquarters is of the opinion that the KPD may attempt to incite strikes in the future.”2

Die folgenden Monate brachten weitere Kürzungen der Lebensmittelrationen. Vom 7. bis 9. Januar 1948 streikten die Belegschaften im Reichsbahnausbesserungswerk Freimann, bei Rathgeber, Krauss-Maffei, BMW und im Ostbahnhof spontan.3 Sie lasteten die fehlenden Lebensmittel zum Teil auch dem Bayerischen Gewerkschaftsbund (BGB) und seinen führenden Funktionären an. Mitglieder oder untere Funktionäre riefen zum Streik „auf Weisung der Gewerkschaften“ auf, ohne dass diese darüber Bescheid wussten. Für Georg Reuter, Generalsekretär des BGB, konnten das nur ehemalige Nazis sein oder „junge, noch nicht verantwortungsbewusste Elemente“.4

Am 9. Januar 1948 legten die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe die Arbeit nieder. Eine Voll-
versammlung in der Omnibushalle des Betriebshofes 2 erwartete u.a. Schwerarbeiterzulagen, Belieferung von Dienstkleidung und Schuhen und Schutz vor Ausschreitungen von Seiten der Fahrgäste.5 Aber erst am 22. Januar 1948 gab das Personalreferat bekannt, dass sich städtische Beamte an den Streiks nicht beteiligen dürften.6

Die Gewerkschaften forderten am 17. Januar über Radio München von der Bayerischen Staatsre-
gierung die restlose Erfassung aller Nahrungsmittel und Güter des täglichen Bedarfs, Schließung sämtlicher Luxusgaststätten und Schlemmerlokale, Verhaftung und Enteignung aller Wirtschafts-
verbrecher. Gleichzeitig riefen sie ihre Mitglieder auf, keine spontanen Aktionen einzuleiten.7

Am 19. Januar antwortete die Bayerische Staatsregierung ausweichend und verwies vor allem auf die Mitarbeit von Gewerkschaftsvertretern und Verbrauchern in den Beiräten der Ministerien und Wirtschaftskontrollstellen.8 Der BGB reagierte mit einer scharfen Antwort: Es gebe keine wirksa-
me Bekämpfung des Schwarzen Marktes; Kompensationsgeschäfte zwischen Betrieben seien nicht, wie von den Gewerkschaften gefordert, der Kontrolle von Betriebsräten unterstellt, ebenso besäßen die Verbraucher keine wirksame Kontrolle; die Beiräte hätten nur Alibifunktion.9

Die amerikanischen Behörden vermuteten kommunistische Agitatoren als Drahtzieher10, der BGB aber übernahm gegen den Widerstand der christlich orientierten Gewerkschaftsführer die Forde-
rungen der Streikenden.11 Für Freitag, den 23. Januar, beschloss er eine demonstrative, auf 24 Stunden befristete Arbeitsniederlegung. Auf der Großkundgebung des Ortsausschusses München auf dem Königsplatz forderten 50 bis 60.000 Menschen unter anderem einschneidende Maßnah-
men gegen den Schwarzmarkt. Die Polizei zählte auf dem Königsplatz lediglich 20.000 Personen.12 Auf einem Transparent hieß es: „Großschieber sind Mörder, ihnen die Todesstrafe!“13 In ganz Bayern streikten nach Zählungen der Gewerkschaften etwa 1,2 bis 1,4 Millionen Arbeitnehmer.

In einer Rundfunkansprache am selben Tage vermutete Ministerpräsident Ehard ebenfalls Mos-
kauer Hintermänner, seine ganze Hoffnung richtete er auf die Hilfe durch den Marshall-Plan.14
In der CSU wurden Zweifel an der „parteipolitischen Neutralität“ der Gewerkschaften laut. Man drohte, eigene christliche Gewerkschaften zu gründen. Die Bayerische Staatsregierung beschuldig-
te schließlich den BGB, mit den Streiks die Verantwortung für die Verschlechterung der wirtschaft-
lichen Lage zu tragen, erklärte sich aber auch noch am selben Tag zu Verhandlungen bereit.15

Vereinbart wurde: Gewerkschaften und Bauernverband planen ein gemeinsames Notprogramm mit dem Landwirtschaftsministerium, Vereinbarungen mit dem Wirtschaftsministerium sollten getroffen werden, Justiz- und Innenministerium sollten härter durchgreifen. Die Bayerische Staatsregierung selbst versicherte, im Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes der Bizone sich stärker für die Überwindung der Notlage einzusetzen.16

Am 4. Februar streikten 5.000 Beschäftigte bei Rathgeber und im Reichsbahnausbesserungswerk Freimann. Der Anlass: Auf den Zulagekarten für Schwer- und Schwerstarbeiter fehlte Fett, auf der Normalverbraucherkarte 2.500g Brot. Zudem wurde der Ausspruch des führenden Gewerkschaf-
ters Hagens kolportiert, dass der Generalstreik vom 23. Januar nur eine Ventilfunktion gehabt habe.17 Eine Vertrauenskrise zwischen Gewerkschaft und Arbeiterschaft bahnte sich an.

Ausgerechnet am Ersten Mai gab Radio München weitere Reduzierungen der Lebensmittelratio-
nen für Schwerarbeiter bekannt. Am Montag, dem 3. Mai, verweigerten Belegschaften in Augsburg und Nürnberg die Arbeitsaufnahme; die Gewerkschaften aber fassten trotz größter Erregung unter der Arbeiterschaft keinen Streikbeschluss.

Daraufhin begann am 4. Mai der spontane Streik im Reichsbahnausbesserungswerk Neuaubing. „RAW Neuaubing … with 2400 workers went on sit down strike. RAW Freimann is expected to join.”18 Am 5. Mai legten um 10 Uhr 3.000 Arbeiter bei Krauss-Maffei gegen den Widerstand der neun sozialdemokratischen Betriebsräte die Arbeit nieder. Die sechs KPD-Betriebsräte unter-
stützten die Streikenden.19 Tausend Arbeiter der Zentralwerkstätten der Reichsbahn, mitgetragen von ihrem nur aus KPD-Mitgliedern bestehenden Betriebsrat, streikten am 7. Mai, ebenso die Belegschaften von BMW in Freimann, der Firma Deckel & Co., der Firma Steinheil & Söhne, ferner tausend Arbeiter bei Rathgeber in Moosach, die ebenfalls von KPD-Betriebsräten unterstützt wurden. Nur Alois Kottmair, Betriebsratsvorsitzender und KPD-Stadtrat, distanzierte sich offiziell vom Streik.

Dem Vorwurf politischer Illoyalität kam er zuvor. Die KPD selbst stand vor einer hoffnungslosen Identitätskrise. Einerseits eine von kommunistischen Betriebsräten geleitete Massenbewegung, an deren Spitze sie sich hätte stellen können, auf der anderen Seite die seit vier Jahren praktizierte Selbstdisziplinierung innerhalb einer Konzeption der unbedingten Loyalität zur Einheitsgewerk-
schaft und darüber hinaus zur Rekonstruktion einer funktionierenden Wirtschaft.

Am 10. Mai schlossen sich die Belegschaften von AGFA, Siemens und Metzeler dem Streik an.20

Am 8. Mai rückte kurz vor 9 Uhr vom Ostfriedhof ein Straßenbahnwagen ein. Die Stadtverwaltung reagierte irritiert. Dann meldete der Betriebshof 7, dass immer mehr Wagen ins Depot zurück-
kehrten, wenige Minuten darauf meldete auch der Schwabinger Betriebshof 4, dass laufend ein-
gerückt wurde. Gewerkschafter Weigand von den Straßenbahnern meinte verbittert: „ Wir haben Hunger; wir haben zweitens kein Verständnis für die einseitige Bevorzugung der im Exportpro-
gramm Arbeitenden und damit den Devisenbonus Genießenden … Der zweite (Punkt) war die dauernden Provokationen der vielen Menschen, mit denen die Straßenbahner ununterbrochen
in Verbindung stehen und die eine Sonderstellung in München einnehmen und nun pfundweise Butter und Lebensmittel mit heimnehmen und sich nicht genieren, in der Straßenbahn Schinken-
brote und Wurstbrote hinunterzukauen. Dabei gehen sie, wie sich die Männer ausdrücken, jeden Tag weiter auseinander.“21

Erst die Stadtverwaltung unterrichtete die Betriebsräte der Verkehrsbetriebe vom spontanen Aus-
stand; sie sollten sich um die Wiederaufnahme der Arbeit bemühen. Es wurde ihnen nahegelegt, „eine auf Betriebshöfe verteilte Versammlung einzuberufen, da dort durch die weniger wogenden gefühlsbetonten Momente eine sachliche Verständigung auf beiden Seiten erfolgen könne.“ Die Betriebsräte widersprachen diesem Ansinnen.22 Am Nachmittag distanzierte sich der Betriebsrat auf einer Funktionärsversammlung der organisierten Straßenbahner im Verwaltungsgebäude in der Äußeren Wiener Straße völlig vom Streik.23

Auf einer im Depot der Wiener Straße am 9. Mai abgehaltenen Vollversammlung stimmten 2.200 organisierte Straßenbahner und städtische Arbeiter mit etwa 100 Gegenstimmen für den Streik.24 Eine Streikkommission wurde gebildet, die über den Betriebsrat mit den Gewerkschaften Fühlung aufnehmen sollte, um diese zur Unterstützung des Ausstandes zu bewegen.

Am 10. Mai fand auf Einladung der Gewerkschaften, die über Radio München verlesen wurde, die Generalversammlung im Betriebshof 2 in der Äußeren Wiener Straße statt. Anwesend waren Per-
sonalreferent Dr. Seemüller, der Verwaltungsrat des Werkes Stark, Gewerkschafter Schiefer und Stadtrat Holzer (CSU). Die Stimmung war explosiv. Der Vorsitzende Weigand forderte eine Urab-
stimmung und wurde daraufhin niedergeschrieen, da schon abgestimmt worden sei. Schiefer, vom anwesenden Oberbaudirektor Dr. Ulsamer gebeten, er solle reden, meinte, „aus Prestigegründen könne, nachdem die Versammlung so stürmisch hergehe, von seiner Seite nicht mehr an das Rednerpult getreten werden.“25 Die Gewerkschaftsfunktionäre verließen unter Beschimpfungen den Betriebshof, der Streik wurde beschlossen.

Am 11. Mai standen „wilde“ Streikposten vor allen Betriebshöfen. Die Gewerkschaften versuchten, mit der Streikleitung zu verhandeln. Der Stadtrat selbst konnte sich nicht zu besonderen Maßnah-
men durchringen und wartete stattdessen auf die Stellungnahme der Gewerkschaften. Auf die An-
frage des Oberbürgermeisters Scharnagl, ob man durch die Polizei räumen lassen könne, plädierte Bürgermeister Wimmer für Verhandlungen; zudem konsolidiere sich die Ernährungslage.

Noch hatten die Stadträte keine rechte Erfahrung im Umgang mit streikenden städtischen Bedien-
steten und waren sich deshalb in der Reaktion nicht einig. Die Hilflosigkeit der sozialdemokra-
tischen Stadträte angesichts der Interessenkollision übertrug sich sogar auf Scharnagl. Dieser meinte schließlich, die Werkleitung der Verkehrsbetriebe müsse eigenständige Entscheidungen treffen.26

Am selben Tag demonstrierten, von der SPD dazu aufgerufen, 10.000 Frauen vor der Feldherrn-
halle, 8.000 demonstrierten vor dem Rathaus. In München streikten 48.000 Arbeiter27, darunter 2.800 bei Krauss-Maffei, 6.500 bei BMW-Allach, 1.800 bei Siemens-Schuckert, 350 bei Opel Häusler, 2.000 Arbeiter bei der Münchner Straßenreinigung, 7.000 Eisenbahner und 3.200 Straßenbahner. Am selben Tag – es war der Höhepunkt des Ausstandes – rief Reuter über Radio München die Streikenden dazu auf, die Arbeit wieder aufzunehmen. Wer gegen den Gewerk-
schaftsbeschluss verstoße und weiterstreike, verletze die gewerkschaftlichen Prinzipien der Solidarität und vergrößere die Not.28

Am 12. Mai fand die Straßenbahner-Vollversammlung in der Halle 3 des Bahnhofs II um 10 Uhr vormittags statt. Die Auseinandersetzung verlief sehr heftig. Betriebsrat Deischl forderte die An-
wesenden auf, gewerkschaftliche Disziplin zu wahren und die Arbeit wieder aufzunehmen. „Die darauffolgende Diskussion, die sehr stürmisch von den einzelnen Rednern geführt wurde, sogar
in sehr beleidigender Art und Weise gegen die Spitzen der Gewerkschaften und gegen den Herrn Oberbürgermeister sowie gegen die Bayerische Staatsregierung und gegen den Wirtschaftsrat in Frankfurt, die samt und sonders aufgehängt werden sollten, wurde von einem Diskussionsredner zum anderen geführt und dann vom Versammlungsleiter der Unzweckmäßigkeit halber abgebro-
chen.“

Dem Antrag auf weitere Arbeitsruhe bis zur nächsten Betriebsrätevollversammlung „wurde stür-
misch zugestimmt, weil die Betriebsräte der Eisenbahn … ebenfalls den Streik solange fortführen wollen.“ Es folgte ein „Misstrauensantrag gegen den Bundesvorstand der Bayerischen Gewerk-
schaften, wonach dieser sofort zu verschwinden hat. Auch diesem Antrag wurde stürmisch zuge-
stimmt. Der Kollege Schmidt forderte zum letzten Mal die Versammlung auf, morgen früh die Arbeit aufzunehmen, er wurde als Feigling und Verräter betitelt und in Pfui-Rufen drückte sich die Versammlung aus“.29

Zur selben Zeit aber verhandelte die Streikleitung bereits mit den Gewerkschaften. Am 12. Mai besuchte eine Delegation der Straßenbahnarbeiter den Stadtrat. Da die Streikkommission aufge-
löst war, vertraten jetzt auch wieder Betriebsräte die Arbeiter: Zum Teil seien Arbeitsaufnahmen vereinzelt schon zugesagt worden. „Wir glauben zuversichtlich, dass die anderen, wenn sie schon, wie ein großer Teil der Belegschaft seinen Pflichten, der Proklamation des Gewerkschaftsbundes und den Anregungen der einstimmig selbstgewählten Streikleitung nachkommt, ebenfalls die Arbeit aufnehmen werden.“30

Straßenbahner Schießl: „Als Mitglied der offiziell gewählten Streikleitung. möchte ich noch fol-
gendes sagen … ich (habe) vorgeschlagen, eine für bald einzuberufende Betriebsräteversamm-
lung abzuwarten, in der die Delegationen der streikenden Belegschaft der verschiedenen Organi-
sationen anwesend sein werden, die selbst dafür eintreten, dass der Streik abgebogen wird. Dieser Antrag wurde gegen 2 Stimmen angenommen. Die Betriebsräte und die Delegationen haben gestern schon erklärt, dass sie für den Abbruch des Streiks sind; nur müssten eben die gesamten Betriebsräte darüber beschließen, um das Prestige der Gewerkschaften zu wahren.“31

Nachdem die Delegation den Stadtrat verlassen hatte, beschloss dieser, eine öffentliche Bekannt-
machung zu erlassen. „Der Stadtrat der Landeshauptstadt München gibt bekannt: In Überein-
stimmung mit der Proklamation des Bayerischen Gewerkschaftsbundes vom 11. Mai und der gleichlautenden Stellungnahme der berufenen Betriebsvertreter (Betriebsräte) fordert der Stadtrat München in Wahrung der öffentlichen Interessen das gesamte streikende Personal der Stadtver-
waltung, Straßenbahn und sonstige Betriebe auf den Dienst unverzüglich, spätestens am 13. Mai morgens zur Vermeidung arbeitsrechtlicher Konsequenzen aufzunehmen … StR Dr. Schmid (CSU): Der Beschluss ist einstimmig gefasst, es sollte (ins Protokoll, d.V.) aufgenommen werden: Der Stadtrat der Landeshauptstadt gibt folgenden einstimmigen Beschluss bekannt. (StR Lettenbauer (KPD): Das ist ja nicht notwendig.)“32

Für den 13. Mai beorderte die Polizeidirektion sechzehn Kriminalbeamte zu den Straßenbahnhö-
fen, um die Aufnahme der Arbeit zu überwachen. „Herr Dr. Ulsamer bittet das Polizeipräsidium, auch am 14.5. bis 16.5. Beamte in bürgerlicher Kleidung zur Überwachung und zum Schutze des arbeitswilligen Straßenbahnpersonals an die Straßenbahnhöfe abzustellen.“33

Am 17. Mai kehrten die letzten Streikenden zu ihrer Arbeit zurück. Man war beruhigt: „Telegramm des Bundesvorstandes an das Sekretariat des Gewerkschaftsrates der Bizone, Ffm – Streikbewe-
gung in Bayern im wesentlichen durch Proklamation des Bundesvorstandes und der Landesge-
werkschaften heute beendet – Verlangen vom Gewerkschaftsrat unverzüglich Verhandlungen mit Amt für Ernährung, damit Lebensmittelaufrufe und Lebensmittelzuteilungen nur in Verbindung mit Gewerkschaftsrat einheitlich in allen Ländern erfolgen. Verwaltungsbehörden offenbar unfä-
hig, korrekte Erfassung und Verteilung ohne Mitwirkung der Gewerkschaften durchzuführen.“34

Die spontanen Protestaktionen, lokal entstanden, hatten sich ausgebreitet wie die Wellen eines Steins, der ins Wasser geworfen wurde, und sie wurden reguliert, kanalisiert und schließlich beendet. Die Statistik der US-Administration:

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Gewerkschaften standen bei den Mai-Streiks nicht vor der Alternative, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen oder dieser die Spitze abzubrechen, auch wenn unter den Funktionären darüber gestritten wurde. Insbesondere in den Betrieben arbeitende Funktionäre, die auch als Betriebsräte wirkten, befürworteten die Unterstützung. So aber entschied man sich, viele Impulse einer Massenaktion preiszugeben. Unter den neuen und noch unbekannten Bedingungen — schließlich waren die Besatzungsbehörden ein Faktor, der erst mit der Zeit berechenbar wurde — mussten Entscheidungen getroffen werden, deren Tragweite die gesamte Bevölkerung, aber auch Einigkeit oder Spaltung der Gewerkschaftsbewegung betrafen.

Der Widerspruch zwischen Spontaneität und Organisation flackerte auf; hier waren Funktionäre mit dem Selbstbewusstsein, ausschließlich den notwendigen Überblick zu besitzen, dort war der Hass auf die Schieber, regierte Hunger, gab es Wünsche und Hoffnungen. Die meisten Funktionäre des BGB sahen die Streiks als von vornherein verlorene Kämpfe mit nutzlosen Opfern an, die die Organisation in Mitleidenschaft ziehen konnte. Dabei berief man sich auf Erfahrungen verlorener spontaner Arbeitskämpfe seit dem beginnenden 19. Jahrhundert. Außerdem galt Hunger nicht als streikwürdiger Anlass: „Der Streik ist der Gewerkschaften stärkste Waffe. Scharfe Waffen erfor-
dern pflegliche Behandlung. Wenn diese Waffe aber zu jeder beliebigen Gelegenheit eingesetzt wird; dann stumpft sie ab.36

Die Gewerkschaften loteten ihren Handlungsspielraum nicht aus; die einzige gesellschaftliche Kraft, die 1945 ihre demokratische Legitimität nicht verloren hatte, die organisierte Arbeiterschaft erkannte nicht ihre eigenen Möglichkeiten und stellte nicht die Machtfrage. Die Organisations-
strukturen zu bewahren, schien wichtiger zu sein. Dies war der Anfang einer schleichenden Niederlage, wie manche Streikenden schon jetzt konstatierten.

Nach Mitteilung des BGB verließen nach den Mai-Ereignissen lediglich 1.000 Mitglieder die Gewerkschaften, das Arbeitsministerium gab eine Zahl von 50.000 an.37 Vor allem aus den metallverarbeitenden Betrieben war die Streikbewegung hervorgegangen. Während die Mit-
gliederentwicklung des BGB-München zwar verlangsamt, aber immer noch positiv verlief, verließen nach den Streiks mindestens 2.900 Münchner Metaller die Gewerkschaft.38

Infolge der Währungsreform verbesserte sich ab Juni die Versorgungslage; nicht so sehr der Mangel an Lebensmitteln als vielmehr der Preisanstieg wurde neues Ziel gewerkschaftlicher Aktionen. Am 12. August 1948 demonstrierten Gewerkschafter vor der Großmarkthalle gegen die hohen Preise.39 Nachdem Verhandlungen mit dem Großhandel und dem Einzelhandelsverband über eine Verminderung der Erzeugerpreise und Handelsspannen ergebnislos verliefen, wurden alle Betriebsräte und Gewerkschaftsmitglieder für den 14. August ins Gewerkschaftshaus an der Landwehrstraße 7 – 9 eingeladen, um sog. Preiskontrollgruppen zu bilden. Erwartet wurden 500 Teilnehmer.40 In der Großmarkthalle ließen sich die Gewerkschafter von den Großhändlern Rechnungen vorlegen, allzu profitgierige Händler wurden recht nachdrücklich auf ihre Gewinn-
spannen hingewiesen, Händler, die sich bedroht fühlten, riefen die Polizei. In der darauffolgenden Woche setzte man die Aktion fort: Am Montag bildeten Bauarbeiter die Preiskontrollgruppen, am Dienstag Post- und Bahnarbeiter, am Mittwoch waren die Metallarbeiter dran; es kam zu Schläge-
reien mit Obst- und Gemüsehändlern.

Für Freitag, den 12. November 1948, proklamierte der bizonale Gewerkschaftsrat eine 24stündige Arbeitsruhe gegen die „angeblich soziale Marktwirtschaft“ des Direktors der bizonalen Wirtschafts-
verwaltung Dr. Ludwig Erhard. Gefordert wurde u.a. angesichts krasser Preissteigerungen die Ein-
setzung eines Preisbeauftragten. Der Streik aber war schlecht vorbereitet.

Nach einer Umfrage vom November/Dezember 1948 mit 1.600 Bewohnern Bayerns über den Streik vom 12. November 1948 gaben neun Prozent an, am Streik teilgenommen zu haben. „The large majority (79 %) say the strike had no effect on their activities, nor did they participate directly or indirectly in it.” Sechzehn Prozent waren für, vierundsechzig Prozent gegen „such work stoppa-
ges”.41

Gewerkschaftsmitglieder hielten die Aktion zunächst einmal für einen Lohnverlust.42 Die Münchner befolgten den Streikaufruf nur zum Teil. Bei den Behörden wurde voll gearbeitet, viele Arbeitswillige stauten sich auf den Straßen, da die Straßenbahnen nicht verkehrten. Nur in den Großbetrieben ruhte die Arbeit. Arbeitsminister Krehle verlautete, dass vor allem in Firmen, die für den Export arbeiteten, gestreikt würde und dass Kommunisten, die die Not der Arbeitenden ausnützten, die Streiks anschürten. Sehr sachlich wurde von den Amerikanern dazu vermerkt: „Analysts note: It is not true that export firms or producers are mainly affected (by strikes, d.V.).”43 Erhard blieb hart.44

Durch den Druck der Streiks und durch massive Interventionen des BGB konnten den Behörden 1948 einige wenige Zugeständnisse abgetrotzt werden: Die am 8. März vom Bayerischen Staats-
ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten wieder angeordneten Hofbegehungs-
kommissionen bestanden aus dem Bürgermeister oder seinem Vertreter, einem Vertreter des Bayerischen Bauernverbandes und einem „Vertreter der Verbraucher“, zumeist einem Gewerk-
schaftsfunktionär oder einem Mitglied.45 Ab Mai waren Gewerkschafter im Ernährungsbeirat des Ministeriums und in den Verbraucherausschüssen der Ernährungsämter vertreten.46

Das Wirtschaftsministerium sicherte zu, dass Regierungs- und Wirtschaftsämter dem BGB An-
gaben über die Bewirtschaftung aller Bedarfsgüter zuleiten würden.47 Am 24. November 1948 richtete das Bayerische Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Geschäfts-
begehungskommissionen für Produktionsbetriebe und Handel ein, deren Aufgabe es war, man-
gelnde Produktionskapazitäten und gehortete Waren festzustellen. Gewerkschaftsmitglieder fungierten als Vertreter der Verbraucher.

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1 Historical Division, Headquarters European Command APO 403, Military Government in Munich 1945 — 1947, Volume I, October 1951, Number 3, 10, IfZ.

2 Lt. Col. Garvey, CIC Region IV, Rundschreiben, 13.11.1947, Manuskript, Office of Military Government of Bavaria (OMGBY) 13/142-3/8, BayHStA.

3 Vgl. A Weekly Report of Intelligence Analysis and Public Opinion, prepared by Office of the Manpower Advisor and Intelligence Division, Research and Analysis Branches, OMGB, 19.11.1948, Manuskript, 4, OMGBY 13/142-3/8, BayHStA.

4 Informationsdienst Rundschreiben B/28/48 des BGB-Bundesvorstands vorn 12.5.1948, Manuskript, 2, OMGBY 10/110-2/14, BayHStA.

5 Vgl. Stadtwerke — Verkehrsbetriebe an Polizeipräsident Pitzer am 14.1.1948, Manuskript, I, Polizeidirektion 578 „Demonstrationen 1946-1960“, StA.

6 Vgl. Franz Xaver Pitzer im Rundschreiben vom 22.1.1948, Manuskript, in: a.a.O.

7 Vgl. Forderungen des BGB, 1 f., Manuskript, OMGBY 10/110-2/18, BayHStA.

8 Vgl. Verlautbarung des Informations- und Presseamtes der Bayerischen Staatsregierung vom 19.1.1948, Manuskript, 1 ff., OMGBY 10/110-2/18, BayHStA.

9 Vgl. Antwort des Bundesausschusses des BGB und des Vorsitzenden der Landesgewerkschaften an die Bayerische Staatsregierung, ohne Datum, Manuskript, 1 f., OMGBY 10/110-2/18, BayHStA.

10 Vgl. Notiz des Headquarters Counter Intelligence Corps (CIC) Region IV, 13.1.1948, OMGBY 10/84-2/2, BayHStA.

11 Vgl. Bericht des Freiherrn von Godin, Präsident der Landespolizei, an Capt. Williams, Manuskript, OMGBY, am 22.1.1948, OMGBY 10/110-2/16, BayHStA.

12 Vgl. Bericht der Kriminaluntersuchungsabteilung 7 am 23.1.1948, Manuskript, Polizeidirektion: Akt 578 „Demonstrationen 1946-1960“, StA.

13 Gewerkschaftszeitung 2/1948, 1.

14 Vgl. Rundfunkansprache des bayer. Ministerpräsidenten Dr. Hans Ehard am 23.1.1948 über Radio München, Manuskript, 1 ff., OMGBY 10/110-2/18, BayHStA.

15 Vgl. Bekanntmachung des Informations- und Presseamts der Bayerischen Staatsregierung vom 23.1.1948, Manuskript, 1, OMGBY 10/110-2/18, BayHStA.

16 Vgl. Bekanntmachung des Informations- und Presseamts der Bayerischen Staatsregierung vom 23.1.1948, 13.50 Uhr, Manuskript, OMGBY 10/110-2/18, BayHStA.

17 Vgl. Notiz, Pressearchiv Staatskanzlei 1948/24, BayHStA.

18 Pau1 E. Moeller, Chief Research Branch an Intelligence Division am 4.3.1948, OMGBY 10/110-2/16, BayHStA.

19 Headquarters Counter Intelligence Corps (CIC) Region IV, 10.5.1948, OMGBY 10/84-2/2, BayHStA.

20 Henry M. Nielsen, Special Agent, CIC an Headquarters CIC Detachment IV am 20.5.1948, OMGBY 10/84-2/2, BayHStA.

21 Stadtrat, 11.5.1948, 901 ff., Bürgermeister und Rat, StA.

22 A.a.O., 895 ff.

23 Vgl. a.a.O., 901 ff.

24 Vgl. a.a.O., 898 ff.

25 A.a.O., 908.

26 Vgl. a.a.O., 909ff.

27 Paul E. Moeller an Director, Intelligence Division, 12.5.1948, OMGBY 10/84-2/2. — In den meisten bayerischen Städten wurde gestreikt. 160.000 streikten in Niedersachsen und Württemberg-Baden. „It appeared that the unions were about to lose control over a large part of their membership.“ A Weekly Report of Intelligence Analysis, a.a.O., 5.

28 Vgl. A Weekly Report of Intelligence Analysis, a.a.O., 5.

29 Stadtrat, 12.5.1948, 930 ff., Bürgermeister und Rat, StA.

30 A.a.O., 938.

31 A.a.O., 943.

32 A.a.O., 952.

33 Bestand Polizeidirektion 578, StA.

34 Informationsdienst Rundschreiben B/28/48 des BGB-Bundesvorstands vom 12.5.1948, 4, OMGBY 10/110-2/14, BayHStA.

35 Zahlen aus: A Weekly Report of Intelligence Analysis …, a.a.O., 4.

36 J. Kurth, „Zur Strategie der Arbeitskämpfe“, Die Quelle Nr. 2, Februar 1948, 29.

37 Vgl. Weekly Report of Intelligence Analysis, a.a.O., 5.

38 Am 31.3.1948 waren 29.846 Münchner Metaller organisiert. Vgl.: Die Quelle 5- 6/1948, 125. – Zum Jahresende waren es nur mehr 26.883. Vgl.: IG Metall Verwaltungsstelle München (Hg.), Vom Deutschen Metallarbeiter-Verband zur Industrie-
gewerkschaft. 90 Jahre Gewerkschaft Metall München. 1891-1981, München (1981), 102. – Andere Gründe für den Mitglie-
derschwund sind unwahrscheinlich: Die Arbeitslosigkeit infolge der Währungsreform stieg nur unwesentlich z.B. im Ver-
gleich zu Verwaltungsberufen an. Vgl.: Statistisches Amt der Landeshauptstadt München (Hg.), Münchner Statistik 9/1948, 176.

39 Vgl. Polizeidirektion Akt 578 „Demonstrationen 1946-1960“, StA.

40 K.G. Anderson, Special Agent, CIC, Region IV, am 13.8.1948, in: OMGBY 10/84-1/88 und am 24.8.1948, in: OMGBY 15/102-2/12, BayHStA.

41 Records of U.S. Occupation Headquarters, World War II. Record Group 260. OMGUS, Report No. 157 „Oppinions on the Work Stoppage in Bavaria“, 3. Februar 1949, 1, IfZ DK 110.001.

42 Vgl. A Weekly Report of Intelligence Analysis and Public Opinion, prepared by Manpower Adviser and Intelligence Division, Research and Analysis Branches, OMGB, 19.11.1948, 3, OMGBY 13/142-3/8, BayHStA.

43 A Weekly Report of Intelligence Analysis …, a.a.O., 5.

44 Für Beier war der Streik der „erste große Ausstand, … überregional… und offensiv“, für Pirker war er nur eine „reine Schaustellung der Macht der Gewerkschaften.“ G. Beier, Der Demonstrations- und Generalstreik vom 12. November 1948, Ffm/Köln 1975,35; Pirker, a.a.O., 109 f.

45 Vgl. Informationsdienst Rundschreiben A/8/48 des BGB-Bundesvorstandes vom 30.4.1948, 1 f., OMGBY 10/110-2/14, BayHStA.

46 Vgl. Beschluss des Bundesvorstandes des BGB und der Vorsitzenden der Landesgewerkschaften am 12.5.1948, OMGBY 10/110-2/14, BayHStA.

47 Vgl. Die Quelle 8/1948,179.


Günther Gerstenberg, Trümmer, Hunger, Solidarität. Gewerkschaften in München von 1945 bis 1950, Münchner Skizzen 2, München 1997, 49 ff.