Materialien 1948
Die Entnazifizierung
…
1. Sprecher:
Man hat es im Dritten Reich nicht gewusst – und man wusste es auch nachher nicht. Vor allem aber waren die Spruchkammern überfordert von den vielen Schreibtischtätern, die die Maschinerie des NS-Staates am Laufen hielten, auch wenn das in ihrem Verantwortungsbereich Unrecht bedeu-
tete. Wurden sie trotz aller Schwierigkeiten als belastet eingestuft, stand ihnen ein Verfahren in der nächsten Instanz offen – und je länger dieser Prozess sich hinzog, desto mehr stiegen ihre Chancen – einfach deshalb, weil jede politische Säuberungskampagne mit der Zeit an Schwung verliert und sich die Grundstimmung in der Öffentlichkeit ändert. (Und noch einen Vorteil hatten manche von denen, die in der Nazizeit einflussreich waren:
Zuspielung 13 (Oskar Neumann):
Da sind plötzlich in großen Konzernbetrieben die wirklich als fanatische Nazis und Antreiber be-
kannten Abteilungsleiter, Direktoren – sind alle verschwunden. Das heißt, die Großunternehmen haben die Leute, die in München bekannt waren, eben nach Reutlingen oder nach Darmstadt versetzt; nach München kamen dann auswärtige leitende Angestellte, gegen die zunächst in München kein Mensch irgend etwas sagen konnte. Und das ist eben für mich der entscheidende Punkt gewesen zu sehen: So ein sicher roher, sicher verblödeter, sicher zeitweise auch gefährlicher Bursche, der da als SAScharführer oder Blockwart rumgelaufen ist, den hat man in vielen Fällen an den Hammelbeinen gekriegt. Aber die Leute, die für die Gestaltung des gesellschaftlichen und des wirtschaftlichen und des militärischen Lebens während der Zeit des Faschismus zuständig waren, die sind doch mehr oder weniger bruchlos, zum Teil nach kurzer Bedenkpause, aber dann doch sehr rasch in mehr oder weniger den gleichen Funktionen aufgetaucht, wo sie vorher die Kom-
mandostellen auch benutzt hatten.
1. Sprecher:
Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen – so lässt sich die zeitgenössische Kritik an der Entnazifizierung von politisch links bis zur rechten Mitte zusammenfassen. Die Warteschleife, die die Altnazis bis zu ihrer Wiedereingliederung ziehen mussten, war allerdings nicht unwichtig: In dieser Zeit wurden von anderen, von Nicht-Belasteten, in Ämtern und Unternehmen die Weichen gestellt. Trotzdem, die Entnazifizierung galt den Zeitgenossen als Fehlschlag, und selbst besonders energische Nazigegner atmeten auf, als ihr Ende in Sicht kam. Inzwischen kündigte sich der Kalte Krieg an, für die Amerikaner wog fortan die Wirtschaftskraft des potentiellen Bündnis-
partners Westdeutschland mehr als die Notwendigkeit der Entnazifizierung. 1948 stellten sie die Überwachung der Entnazifizierung ein, 1949 war die Entnazifizierung, wenn auch nur im Großen und Ganzen, abgeschlossen. In Bayern hatte sich bis dahin ein halbes Prozent der erwachsenen Bevölkerung selbst so im Fragebogen belastet, dass es zu einer mündlichen Verhandlung vor einer Spruchkammer kam. Nur ein Bruchteil dieses halben Prozents wurde dann auch als höher belastet eingestuft und verurteilt. Ralph Giordano, der ein vielbeachtetes Buch über die Folgen des Dritten Reiches auf die Deutschen schrieb, urteilt:
2. Sprecher:
Die Erwachsenen eines Volkes, die sich mehrheitlich schuldig, tief schuldig fühlten, ohne die Kraft des Bekenntnisses dazu zu besitzen, sollten sich selbst bestrafen. Das musste misslingen.
1. Sprecher:
Und BBC London kurz und bündig:
2. Sprecher:
Verpasste Revolutionen kann man nicht mit Fragebögen nachholen.
1. Sprecher:
Was bei der Entnazifizierung unerledigt blieb, beschäftigt die öffentliche Diskussion bis heute.
Manuskript, Bayern2Radio – radioWissen, Bayerischer Rundfunk: Erlebte Zeitgeschichte: Die Nachkriegszeit (I) Die Entnazifizierung, Autor: Fritz Dumanski, Redaktion: Petra Herrmann.