Materialien 1949
Er war ein Don Quichotte
Aufstieg und Fall des Alfred Loritz
Von Erich Helmensdorfer
Mit der Berufsliste für Rechtsanwälte hat Alfred Loritz kein Glück: 1926 zugelassen, 1939 gestrichen, 1945 zugelassen, 1964 gestrichen. Die letzte Streichung wurde jetzt vom Senat für Anwaltssachen des Bundesgerichtshofs als rechtens bestätigt. Damit ist die bürgerliche Existenz des ehemaligen bayerischen Staatsministers und Abgeordneten des Bundestags ausgelöscht. In der Politik hatte Loritz schon lange abgewirtschaftet. Kaum jemand erinnert sich noch des Idols, dem einmal Zehntausende zugejubelt hatten und dessen Name bei Wahlen hunderttausendfach angekreuzt worden war.
Der Lebensweg des gebürtigen Müncheners, Sohn eines Regierungspräsidenten von Oberbayern, ist ungewöhnlich genug: Jurist, Politiker, Emigrant, Geheimagent, Minister, Parlamentarier; in der Diktatur zum Tode verurteilt, in demokratischen Gefängnissen zu Hause und immer auf der Flucht vor der Polizei. Ein Mensch, angesiedelt in dem makabren Grenzbereich zwischen Politik und Kriminalität.
Der 26jährige Rechtsanwalt trat 1928 in München der Wirtschaftspartei bei. Vier Jahre später verließ er sie wieder, weil sie sich der Harzburger Front anschloss. Loritz versuchte, nach eigenen Angaben, eine Widerstandsbewegung gegen Hitler aufzuziehen, beteiligte sich angeblich am missglückten Attentat gegen Hitler im Bürgerbräukeller vom 8. November 1939, verfing sich im feinmaschigen Netz von SD und Gestapo und flüchtete 1939 in die Schweiz, Das brachte ihm erstmals die Streichung von der Anwaltsliste und, in Abwesenheit, ein Todesurteil des Volksgerichtshofs ein.
Die Jahre der Emigration bleiben mit illegaler Tätigkeit unter verschiedenen Decknamen in unaufklärbares Dunkel gehüllt. Loritz soll Geheimagent des amerikanischen Office of Strategie Services (OSS) unter dem in der Schweiz residierenden Allan W. Dulles gewesen sein. Später wird ihm vorgeworfen, in Zürich für ein ganzes Dutzend von Geheimdiensten gearbeitet zu haben.
Nach Kriegsende taucht Loritz im Sommer 1945 wieder in München auf. Der Anwalt gründet die Wirtschaftliche Aufbauvereinigung (WAV) und erhält in einer Zeit, da die Captains der Militärregierung mit Lizenzen das öffentliche Leben steuern, die Zulassungsgenehmigung. In kürzester Zeit werden Loritz und die WAV landauf, landab bekannt. In den Jahren des schwarzen Marktes, der Schiebungen und der Wohnungsnot greift Loritz stimmgewaltig alles an, was Erfolg bei den Massen verspricht, besonders die sich wieder etablierenden Weimarer Parteien schwarzer und roter Couleur. Er nützt den kaum gebildeten politischen Sachverstand seiner Zuhörer, um gegen das „den kleinen Mann zermalmende Räderwerk der Politik“ vom Leder zu ziehen. Keine Partei kann sich ähnlich überfüllter Versammlungen rühmen wie die WAV.
Rednerisch begabt, sagt Loritz nur, was die Leute hören wollen. In einer Zeit ohne Autos fährt er mit einem klapprigen Lieferwagen zu Kundgebungen vor (tatsächlichverfügt er über einen ordentlichen Personenwagen), lässt sich nach einer Versammlung im Triumphzug zur Haltestelle der Straßenbahn geleiten (tatsächlich steigt er zwei Haltestellen weiter aus und in seinen Wagen mit Chauffeur um) und versichert treuherzig, er lebe wie seine Zuhörer nur von den Lebensmittelzuteilungen (tatsächlich bekommt er, wie auch die andere Prominenz, Sonderzulagen).
Der zaundürre Eiferer wird als „Kohlrabi-Apostel“ und „Volksgaukler“ verlacht, aber in den ersten Bayerischen Landtag der Nachkriegszeit zieht er mit dreizehn Abgeordneten ein. Die Fraktion hört auf sein Kommando, wenn er mit Kommandos wie „Setzen“ oder „Aufstehen“ die Abstimmungen dirigiert. Unter dem CSU-Ministerpräsidenten Dr. Hans Ehard wird Loritz am 21. Dezember 1946 Staatsminister für Sonderaufgaben.
Seine Sonderaufgabe ist die Entnazifizierung. Seines Amtes waltet er höchst unkonventionell. Akten verschwinden unbearbeitet in seinem Schreibtisch; er stürmt durch die Ministeriumsräume und brüllt, dass Passanten auf der Straße stehenbleiben. Schließlich vereinen sich Parteien, Verfolgte und Gewerkschaften im Protest gegen den „Don Quichotte der bayerischen Politik“. Ministerpräsident Ehard entlässt den kauzigen Minister am 23. Juni 1947.
Wenige Wochen später wird er unter Verdacht der Verleitung zum Meineid verhaftet. Aus dem Gefängnis wegen Erkrankung in eine Klinik verlegt, entflieht er trotz ständiger Bewachung aus dem Fenster mit zusammengeknüpften Bettlaken. Seine Agentenerfahrung kommt ihm zugute. Ein Jahr lang führt er die Polizei an der Nase herum, taucht auf Versammlungen auf und unter, schreibt Briefe und gibt heimlich Interviews. Bei einer solchen Gelegenheit schnappen ihn auf der Theresienwiese Kriminalbeamte, die sich als Liebespärchen verkleidet haben. Vor Gericht bekommt er drei Monate Gefängnis wegen Flucht und Haftentziehung; andere Beschuldigungen sind nicht nachzuweisen. Wegen seiner Behauptungen, das Gefängnispersonal habe ihm nach dem Leben getrachtet, wird er nicht mehr vor Gericht gestellt, denn er zieht als Abgeordneter 1949 in den Bundestag ein, und seine Immunität wird in Bonn nicht aufgehoben.
Im Bundestag finden seine Haltung und sein Eifer zunächst Anerkennung. Loritz wird zum Schriftführer gewählt, und die Parlamentarier fragen sich, was denn die Bayern gegen den wackeren Mann eigentlich hätten. Bis er durch seine Kuriositäten auch den Bonnern auf die Nerven fällt. In seiner eigenen Partei ist er zeitweilig Vorsitzender, zeitweilig ausgeschlossen. Schließlich kommt es zum Bruch mit der Fraktion, weil er – der Verfolgte des Naziregimes – sich neonazistischen Kreisen um die Sozialistische Reichspartei nähert. Der Einzelgänger bekommt im September 1953 kein Mandat mehr.
Zwei Jahre später, im August 1955, taucht er zu den Bürgerschaftswahlen in Bremen auf. Sein Wahlvorschlag unter dem Namen Deutsche Aufbauvereinigung (DAV) wird aus formalen Gründen zurückgewiesen. Bei Nachprüfungen kommt es im Herbst 1958 erneut zu einem Strafprozess, weil Loritz wieder einmal im Verdacht steht, Zeugen zu falscher Aussage und Meineid angestiftet zu haben. Die Justizbehörden heben einen Haftbefehl auf, weil Fluchtgefahr nicht bestehe, worauf der Bayer am 13. Januar 1959 aus Bremen prompt verschwindet. Seither wird vergeblich nach ihm gefahndet. In Abwesenheit verurteilt ihn das Gericht zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust.
Doch einen Mann wie Loritz kann das nicht schrecken. Er meldet sich aus Wien, aus Innsbruck und Zürich. In einem Salzburger Cafe sagt er einem Münchener Bekannten, mit dem er zufällig zusammentrifft, er könne leider am Tisch nicht Platz nehmen, da er „mit dem Rücken zur Wand“ sitzen müsse.
Der Bundesgerichtshof hebt das Bremer Urteil wieder auf. Ein psychiatrischer Gutachter hatte angeregt, die in einem unterlassenen Koffer von Loritz gefundenen Unterhosen zu beschlagnahmen, um zu prüfen, ob er tatsächlich wegen seiner Krankheit Spezialunterhosen, das Stück zu 85 Mark, tragen müsse. Derselbe Sachverständige scherzt darüber aber in einem Leserbrief an eine Zeitung und kann nicht mehr als unbefangen gelten.
Eine Auslieferung von Alfred Loritz hat Österreich abgelehnt. Er hat sich mittlerweile in Innsbruck als „Wirtschaftsberater“ niedergelassen. Von Politik will der 63jährige nichts mehr wissen. Er behauptet, Heimweh nach seiner Vaterstadt München zu haben. Aber die Bundesrichter konnten ihm den Gefallen nicht tun, in München wieder die Rechtsanwaltskanzlei Loritz öffnen zu dürfen.
Die Zeit 50 vom 10. Dezember 1965.