Materialien 1950

Der „Bund für Bürgerrechte“

Gemeinhin gelten die sechziger Jahre als die Zeit, in der die formierte Gesellschaft BRD zu neuen Ufern aufbrach, und auch die Gründung der frühen Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen amnesty international und Humanistische Union wird in diesem Kontext gesehen. Dass es am Ende und im Kontext der amerikanischen Demokratisierungspolitik für Deutschland eine nennenswerte Bürgerrechtsorganisation gegeben hat, ist nahezu unbekannt.

Die amerikanische Militärregierung nach 1945 und der US-Hochkommissar ab 1949 betrieben u.a. eine Politik der Reorientierung, die gesellschaftlichen Organisationen und Kontakten viel Raum gab. So erhielt auch die 1920 gegründete American Civil Liberties Union (ACLU) Gelegenheit, die Lage in der amerikanischen Zone zu sondieren und eine Partner-Organisation zu initiieren: den Bund für Bürgerrechte.

Der politische Kontext war die Intention der US-Amerikaner, staatsbürgerliche Rechte und ihre Verteidigung gegen Bürokratien zu stärken; solche Bestrebungen in Deutschland anzuregen und die Besatzungspolitik zu kontrollieren, war Absicht der ACLU. Nach Gesprächen ihres Vorsitzenden Roger Baldwin mit allen politischen und gesellschaftlichen Lagern gedieh der Plan einer deutschen Parallelorganisation mit Unterstützung des US-Hochkommissars Clay, der die „deutsche Fähigkeit, auf die Initiativen der alliierten Regierung mit der Entwicklung demokratischer Institutionen zu reagieren“, zum Test für die deutsche Demokratiefähigkeit erklärte. Der Soziologe Alfred Weber und der CDU-Politiker Hans Lukaschek wiesen auf die besatzungsspezifischen Bürgerrechtsprobleme und die Infantilisierung der Deutschen hin und forderten mehr demokratische Lernräume; Annedore Leber und Willy Brandt warnten davor, eine Bürgerrechtsorganisation deutschen Professoren zu überlassen, die unfähig zur Durchführung praktischer Projekte seien. Seit Ende 1948 kristallisierten sich aus dem Netz der Interessenten lokale Initiativen für Bürgerrechte oder „Gesellschaften für staatsbürgerliche Freiheiten“ heraus – u.a. in Frankfurt a.M., Berlin und Wuppertal. Die von der amerikanischen Militärregierung bzw. vom Hochkommissar angestrebte Überparteilichkeit und die Kooperations-Verweigerung eher konservativer Kräfte (zum Beispiel des Frankfurter Industriellen Richard Merton) beendeten den zaghaften Versuch, an die Tradition der Internationalen Liga für Menschenrechte anzuknüpfen; „zu politisch“ und „zu pazifistisch“ lauteten die Vorbehalte. Die Rolle eines Motors und Protektors spielte neben Baldwin der in die USA emigrierte SPD-Politiker Wilhelm Sollmann. 1949 erarbeitete ein vorbereitender Ausschuss programmatische Grundzüge: um Aufklärung über die Grundrechte sollte es gehen, um Öffentlichkeit für Verstöße gegenüber diesen und um die Unterstützung von Musterprozessen gegen unrechtmäßiges Verwaltungshandeln. Örtliche Gesellschaften entstanden – oft im Anschluss an Kontakte und Vorträge von Baldwin und Sollmann und meistens organisatorisch wie finanziell von Repräsentanten der Militärregierung unterstützt – in Stuttgart, Heidelberg/Mannheim, Köln/Bonn, Hamburg, Göttingen, Freiburg, Lübeck und anderswo – vor allem in Universitätsstädten.

Neben vielen heute vergessenen Namen versammelten sich in der Gründungsszene viele der später prominenten liberalen Politiker, Intellektuellen und Juristen der Bundesrepublik wie Theodor Eschenburg, Dolf Sternberger, Erich Kaufmann, Thomas Ellwein, der Gewerkschafter Willi Birkelbach, aber auch konservative Prominenz wie der Grundgesetz-Kommentator von Mangoldt, der spätere schleswig-holsteinische Ministerpräsident Lemke oder der Verleger G. Olzog.

Als Bundesverband der lokalen Initiativen wurde am 20. September 1949 in Frankfurt/M. der „Bund für Bürgerrechte“ gegründet, dessen Vorstand u.a. Eschenburg und Sternberger, der Freiburger Völkerrechtslehrer Wilhelm Grewe sowie der Bonner Rektor Ernst Friesenhahn angehörten, nach einigen Monaten rückte der HU-Mitgliedern nicht unbekannte Ulmer Rechtsanwalt Erwin Fischer in das Gremium nach. Bis September 1950 stieg die Anzahl der Mitgliedsgruppen auf vierzig an; im April 1952 existierten in der Bundesrepublik dreiundsechzig Ortsverbände, z.T. gab es Regional- und Landesverbände. (Viele weitere Gründungversuche scheiterten an mangelndem Interesse, an fehlender Unterstützung durch die US-Amerikaner, an ländlichen Strukturen oder auch an der Opposition der lokalen Anwaltschaft.) Mitgliederzahlen sind für diesen Zeitraum nur zu schätzen – etwa viertausend Menschen dürften 1952 den Ortsvereinen angehört haben.

Im September 1950 unternahm der ACLU-Vorsitzende Baldwin noch einen Versuch, mittels einer großen Tagung zur Sammlung aller Bürgerrechtsorganisationen und BürgerrechtstreiterInnen beizutragen. Unter Beteiligung u.a. von Änne Brauksiepe, Carlo Schmid, Heinrich von Brentano, Walter Dirks, Jakob Kaiser, Otto Suhr, Adolf Arndt, Helene Wessel u.a. sollte diese Konferenz in Medien, Verbänden und Parteien für die Grundgedanken einer unabhängigen Bürgerrechtspolitik werben. Was aber waren die alltäglichen Aktivitäten des Bundes und seiner örtlichen Gruppen? In erster Linie führten sie in regelmäßigen Sprechstunden Rechtsberatungen durch und übernahmen oftmals durch einen Vertrauensanwalt die Vertretung der Kläger bei Grundrechtsverletzungen vor den Verwaltungsgerichten. In manchen Hochburgen des Bundes ging die Zahl solcher Beratungen in die Hunderte pro Jahr – in den meisten Fällen waren keine Klagen notwendig, sondern die Hilfe des Bundes und die öffentliche Diskussion der Fälle führten zu außergerichtlichen Einigungen. Wichtige Themen der Beschwerden: angebliche Wahlmanipulationen, Fragen der Wohnraumbewirtschaftung, Behandlung ehemaliger NSDAP-Mitglieder, beamtenrechtliche Bestimmungen, Polizeiübergriffe, Kirchensteuerfragen, die Gleichstellung der Geschlechter … Neben dieser Beratungsarbeit organisierten die örtlichen Gesellschaften Arbeitskreise und Tagungen und veranstalteten auf der Basis des dort versammelten Expertenwissens regelmäßig öffentliche Vortragsveranstaltungen, oft in Zusammenarbeit mit Jugend-, Frauen- und gewerkschaftlichen Verbänden, Informationsschriften, u.a. über polizeirechtliche, beamtenrechtliche, jugendschutz- und versammlungsrechtliche Fragen, kamen hinzu. Darüber hinaus bediente sich der Bund auch einiger vom Hochkommissariat produzierter Aufklärungsfilme über Behördenwillkür, Redefreiheit, Gleichstellung der Geschlechter. Die gesetzgeberische Arbeit der jungen Bundesrepublik versuchte der Bund durch Gutachten und Empfehlungen zu beeinflussen, etwa zur Konzeption des Bundesverfassungsgerichts und dem dortigen Klagerecht einzelner BürgerInnen.

Trotz des Anspruchs auf politische Unabhängigkeit und tatsächlich respektable Aktivitäten krankten die Gesellschaften und ihr Zusammenschluss daran, finanziell immer am Tropf amerikanischer Gelder zu hängen. Dies ermöglichte zwar, von 1950 bis 1953 eine eigene Zeitschrift herauszugeben, zunächst unter dem Titel „Die Bürgerrechte“, dann als „Recht und Freiheit“, aber diese, wie der gesamte Bund, stand und fiel eben mit dieser ab 1952 eingestellten Rückendeckung. Wichtige Aktivisten wandten sich außerdem anderen (z.B. beruflichen) Feldern zu, so dass der Vorwurf, hier werde „mit ausländischen Mitteln Vereinsmeierei betrieben“, nicht fern war. Die Protektion einflussreicher Gönner, zum Beispiel in der Bundeszentrale für Heimatdienst (später: für politische Bildung), reichte noch für die zeitliche Herauszögerung des Niedergangs, aber neue Ideen, zum Beispiel einer verstärkten Kooperation mit den Volkshochschulen, konnten sich nicht mehr durchsetzen: Ende 1954 fand nicht nur die letzte Mitgliederversammlung statt, auch die wichtigsten lokalen Gruppen lösten sich auf.

Auffällig an diesem frühen Gehversuch bundesdeutscher Bürgerrechtspolitik ist aus heutiger Sicht die Kontinuität vieler Themen, die auch heute noch für Proteste, Expertisen und Kampagnen gut sind. Die hohe Professionalität des Bundes (mit einer hauptamtlichen Bundesgeschäftsstelle, einer Zeitschrift und einem starken Netz von Vertrauensanwälten) – wie sie auch heute beim ACLU wohl noch zu finden ist, war erkauft durch die Abhängigkeit von US-amerikanischen Mitteln, verweist aber auch auf die heutigen Probleme deutscher, dem „Bewegungsalter“ entwachsener Bürgerrechtsorganisationen. Die Beendigung der amerikanischen Unterstützung und das „Ausklingen“ spezifische Probleme der Nachkriegszeit dürften wohl für das schnelle Ende mindestens ebenso stark verantwortlich sein wie die von H.J. Rupieper vermutete Unvereinbarkeit dieses liberalen Aufbruchs mit der autoritären Kanzlerdemokratie der fünfziger Jahre. Bleibt die Frage, warum die Bemühung um bürgerrechtliche Arbeit quer durch die politischen Lager nur eine Episode blieb.

Norbert Reichling

(nach: Hermann-J. Rupieper, Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Der amerikanische Beitrag 1945 – 1952, Opladen 1993)


Mitteilungen der Humanistischen Union 147 vom September 1994, 80 f.

Überraschung

Jahr: 1950
Bereich: Bürgerrechte

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