Flusslandschaft 1945

Ressentiments

Die meisten Menschen finden sich im Alltagsleben besser zurecht, wenn sie in Stereotypen denken und Widersprüchliches vereinfachen. Das ist der Normalzustand. Menschen sehen, was sie sehen wollen. Mit verallgemeinernden Zuschreibungen versuchen sie, das Unbekannte in Bekanntes zu transformieren und damit in seiner Bedrohung zu neutralisieren. Dies geschieht beinahe wie ein Naturereignis im Gruppenprozess, ohne dass individuelle Einsprüche noch wahrgenommen wer-
den. Damit schlägt die Stereotypisierung in Ausgrenzung und Stigmatisierung um. Vor allem auf die „Amiflitscherln“ hat es der Volkszorn abgesehen. Das Seltsame, Paradoxe dabei ist, dass das als fremd, anders, unnormal Benannte gleichzeitig als allgemein gültig und bekannt definiert wird.

Samstag, 8. September 1945: „Im Stadtgebiet sind an gut sichtbaren Stellen anonyme Anschläge angebracht, die das Verhalten einer ‚gewissen’ Klasse von deutschen Frauen und Mädchen anpran-
gern, die vielfach ihre Frauenehre nur um einige Zigaretten oder um eine Tafel Schokolade weg-
würfen. Die Allgemeinheit wird zur Selbstjustiz aufgefordert z.B.: ‚Schlagt sie, schneidet ihnen die Haare ab … den amerikanischen Huren, helft alle mit!’ Die Amerikaner lassen die Anschläge besei-
tigen.“1

So häufig die Beschreibungen konstruierter Alltagswahrnehmungen (auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten) auftauchen, so selten wird die Frage gestellt, ob die allgemein verbreitete Technik der Realitätszurichtung im Konzert der Lebensbewältigungs-Strategien einen zwingend notwendigen Bestandteil ausmacht. Zumindest reduziert sich die Summe von Vorurteilen, je gesicherter sich die menschliche Existenz erfährt. Daraus könnte geschlossen werden, dass das Individuum des aufrechten Gangs es nicht nötig hat, sein Ich gegen das Fremde abzugrenzen. Eine zweite Frage taucht öfter auf, wird aber regelmäßig nur unzulänglich beantwortet: Kann Aufklä-
rung (und mit welchen Methoden!?) den Stereotypen, die die Mehrheiten besetzen, überhaupt Paroli bieten? Adorno meint: „Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein ,Einheitsstaat’, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie sollte statt dessen auf die schlechte Gleichheit heute, die Identität der Filminteressen mit den Waffeninteressenten deuten, den besseren Zustand aber denken als den,
in dem man ohne Angst verschieden sein kann.“2 Dem Wunsch, ohne Angst verschieden sein
zu können, steht ein ideologisches Trommelfeuer entgegen, das mit der Absicht, Herrschaft auf-
zurichten und dauernd zu implementieren, ungehindert über die bürgerlichen Medien auf alle Herzen und Hirne einwirkt. Und noch dort, wo weniger plumpe Klischees die Weltsicht bestim-
men, bieten sie beiläufige und scheinbar wertfreie Orientierunghilfen als Geländer an, an dem sich (hin und wieder, manchmal auch öfter) das Individuum festhält …


1 Chronik der Stadt München 1945 — 1948, bearbeitet von Wolfram Selig unter Mitwirkung von Ludwig Morenz und Helmuth Stahleder, München 1980, 78; siehe „Froyleins, Amiflitscherln, Schokoladenhuren“ von Karin Sommer.

2 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Tiedemann u.a. (Hg.): Theodor W. Adorno – Gesammelte Schriften Bd. 4. Frankfurt am Main 2003, S. 114. [Theodor W. Adorno: Melange. In: Minima Moralia Reflections from the damaged life. Part Two, 1945]