Materialien 1953

Spätsommer

Westwind. Du hörst das gleichmäßige Rollen rangierender Züge, manchmal unterbrochen von einem leisen kurzen Pfiff eines Triebwagens. In der Ferne setzen Hunderte von Rädern auf Schie-
nen zielstrebig vorwärts und zurück. Sie gleichen fließenden Bewegungen; du vernimmst das Weg- und Hinfahren der vielen Waggons. Drüben in Neuaubing ist das Reichsbahnausbesserungswerk; da fahren sie die ganze Nacht.

Ich reise mit. Bis nach Hamburg. Dann aufs Schiff und dann bin ich in Brasilien, in dem Land der mächtigen grünen Bäume, der Affen und Kolibris, der Papageien und Jaguare, der Lianen und des Amazonas und der Schlangen.

Langsam wird es hell. Aufstehen, Zähne putzen. Der Schulranzen lehnt an der Türe, daneben das Turnsackerl. Mutter hat mir etwas Brot mit Margarine auf den Teller gelegt. Mein Magen krampft, ich bringe keinen Bissen hinunter.

Unter den Alleebäumen der Grandlstraße, die sich in einem sanften Bogen schwingt, gehe ich zur Schule, zunächst noch allein, dann werden wir Kinder mehr. Die Fahrbahn der Grandlstraße ist ge-
teert, der Fußweg nur festgetrampelte Erde. Ich gehe etwa eine dreiviertel Stunde. Wenn zur Lin-
ken hinter den Kartoffelfeldern die Blutenburg erscheint, ist es nur noch ein kurzer Weg.

Nach der Kurve ziehen sich wieder Stoppelfelder. Man sagt, das meiste Land hier gehört dem Grandlbauern, dem reichen Grandlbauern. Nur ab und zu steht ein Haus an der Straße. Krähen sitzen da, hacken mit ihren Schnäbeln in die Ackererde, fliegen kurz auf, setzen sich, krächzen.

Das Klassenzimmer ist zu klein für uns alle. Wir sind etwa fünfzig Kinder, dichtgedrängt. Das Fräulein steht vorne neben dem Lehrerpult und hat uns im Blick. Ich sitze in der ganz rechten Reihe in der fünften Bank. Rechts neben mir zieht sich die Wand, links neben mir sitzt der Dätz.

Das Fräulein fragt. Ich verstehe nicht, was es meint. Einige melden sich. Ich bin zu langsam. Jetzt stehe ich da, stumm, sehe auf die Schulbank, sehe die Schiefertafel und den Griffel. Ich soll mich setzen.

Das Fräulein ist ein Flüchtling wie viele hier in Obermenzing. Ich verstehe nicht, was sie sagt – und umgekehrt.

Die Unebenheiten der Wand lassen kleine Schatten wandern. Wenn ich mich bewege, bewegt sich auch mein Schatten auf der Wand. Er ist sehr blass, kaum wahrnehmbar. Wenn ich meine Hand hebe, sehe ich die einzelnen Finger nicht. Aber die Umrisse der Hand ähneln dem Umriss von Bra-
silien.

Das Fräulein ruft mich auf. Ich erstarre, werde unsichtbar. Das Fräulein kommt zwischen den Bankreihen näher, steht neben unserer Bank und beugt sich über den Dätz zu mir hinunter. Es riecht ein wenig wie die Kochwäsche zu Hause, wie Kernseife. Das Fräulein zieht mich am Ohr in die Höhe und sagt etwas, was ich nicht verstehe. Ich sehe ihm in die Augen. Ich sehe die vielen Falten im Gesicht, die zwei senkrechten Falten oberhalb der geröteten Nase mit ihren großen Poren, sehe diesen mächtigen Busen, der sich hebt und senkt.

„Setz Dich!“ Das Fräulein geht vor zum Lehrerpult, schreibt etwas, kommt zurück und legt einen Zettel auf die Bank. „Das wirst Du Deiner Mutter geben!“

Der Dätz hat übrigens auch nicht mehr Ahnung wie ich. Er hat immer Angst. Ich sehe, wie er weiß wird, wenn er etwas sagen soll, weiß wie die Wand. Das Fräulein hat ihn schon zweimal nach vorne beordert.

Das Pult des Fräuleins steht erhöht auf einem Podest. Sie stellte ihren Stuhl daneben, rief den Dätz vor, bedeutete ihm, sich darüber zu legen und zog ihm die kurze Hose runter. Wir sahen seinen knochigen nackten Arsch und sahen, was zwischen seinen dünnen Steckerlbeinen baumelt. Keiner von uns grinste, keiner war irgendwie schadenfroh. Dann holte sie mit dem Rohrstock aus. Nach dem dritten Hieb konnte der Dätz einen Schrei nicht mehr unterdrücken. Nach dem zehnten Hieb wimmerte er nur noch.

Die Klasse duckte sich, war mucksmäuschenstill. Es dauerte lange, bis er die Hose wieder hoch ziehen und zuknöpfen durfte. Als er winselnd zu mir zurück kam, sah ich sein verquollenes Ge-
sicht. Er setzte sich neben mich, ich starrte gerade aus und dachte, ob es nur so schlimm ist, so-
lange man ein Kind ist, oder ob das nie aufhört.

Jeden kann es treffen. Ich denke, mich trifft es nicht, weil ich mich unsichtbar mache, nein, besser noch, ich verschwinde ganz. Ich bin nicht mehr da.

Das Pausebrot schenke ich dem Toni. Der Toni ist ganz nett. Er sitzt vor mir und hat mich schon einmal abschreiben lassen. Wenn die Klingel das Ende der Pause einläutet, verkrampft sich mein Magen. Wie aufgezogen gehe ich mit allen anderen zurück ins Klassenzimmer.

Was das Fräulein vorne sagt, verstehe ich immer noch nicht. Mit dem Griffel zeichne ich Muster auf die Schulbank. Die Stunden ziehen sich endlos. Eines kann ich schon ganz gut: Unsichtbar werden, starr, gefühllos, durchsichtig. Meistens sieht mich das Fräulein nicht. Ich weiß, ich darf nicht auffallen. Aber manchmal scheine ich etwas falsch zu machen, denn dann hat das Fräulein mich gesehen. Ich will nicht gesehen werden, von niemandem. Ach käme doch einmal ein Brief aus Brasilien!

In der letzten Stunde ist Turnen dran. In der nach kaltem Schweiß riechenden Halle stehen Barren und Böcke, an der Wand befinden sich Sprossenwände. Purzelbäume schlagen, hoch oder weit springen, auch der Hand- oder Kopfstand werden geübt. Vorher müssen wir in Reih und Glied antreten. Der Größe nach. Wir frieren. Wenn der Sprung von der Sprossenwand aus vier Meter Höhe auf die blaue Matte angeordnet wird, müssen wir diese Mutprobe bestehen. Willy, dessen Eltern Flüchtlinge sind, ist kreidebleich.

Die wenigsten von uns zeigen ihre Angst. Zuerst springen die größeren und die, denen alles schon egal ist. Dann komme ich an die Reihe. Fünfzehn sind schon gesprungen. Wenn ich es nicht schaffe, welche Schande! Die Angst vor dem Hohn der Klasse ist größer als vor der Höhe. Ich mache die Augen zu und lass mich fallen, klaube mich zusammen und geh zu denen, die es ge-
schafft haben. Willy weigert sich. Der kleine Schorschl springt als nächster. Und dann der blasse Hanse. Wer möchte schon Feigling oder Drückeberger sein! Am Ende springt sogar der Willy. Wir alle sind gesprungen. Wir haben Mut markiert. Mut aus Feigheit.

Auf dem Heimweg begegnet mir ein Auto. Ich blicke ihm hinterher, wie es in Richtung Verdistraße fährt, die viele immer noch die Adolf-Hitler-Straße nennen, obwohl es weit mehr als fünf Jahre her ist, dass die letzten Bomben fielen.

Zur Rechten auf den Ackerfurchen sitzen Krähen. Eine sitzt da und sieht mich an. Ich bleibe ste-
hen, gehe näher und bleibe erst wieder stehen, als ich befürchte, sie könnte wegfliegen. Im Ranzen sind die Schiefertafel, Bücher, das Griffelkästchen – das Pausebrot hat der Toni gegessen. Gerne würde ich dem Vogel etwas geben. Ich denke, schade, dass das Brot nicht mehr da ist, und ich glaube, dass die Krähe verstanden hat, was ich denke. Sie sitzt zwei Meter vor mir, sieht mich auf-
merksam an, hebt die rechte Schulter, legt den Kopf nach hinten und sperrt den Schnabel auf, als ob sie sagen möchte, „ist schon in Ordnung“. Schließlich gehe ich weiter; Mutter wartet. Beim Weggehen drehe ich mich um und sehe, wie der Vogel mir nachblickt.

Zu Hause schiebe ich den Schulranzen hinter die Tür und setze mich an den Küchentisch. Es gibt Kartoffeln und Kohl. Mutter liest den Zettel. „Franz hat wieder nicht aufgepasst. Kommen Sie in meine Sprechstunde.“ Mutter hat sich hingesetzt und starrt denn Zettel an. Dann holt sie tief Luft und räumt das Geschirr ab.

Hinter dem kleinen Haus, in dem wir im Erdgeschoss zur Miete wohnen, steht eine Baracke. Der Mann, der hier seinen Friseurladen eingerichtet hat, ist ein Flüchtling aus Schlesien. Ich gebe ihm die zwanzig Pfennige, die mir Mutter in ein Papier eingewickelt hat, und setze mich auf den hölzer-
nen Drehstuhl.

Der Kamm fährt mir holprig durch die Haare und reißt an den Verfilzungen. Während der Friseur schneidet, rieche ich seinen Zigaretten-Atem. Um den Nacken weit nach oben auszurasieren, ver-
wendet er ein Gerät, das er schnappend über die Haut zieht. Das Gerät schneidet nicht richtig, sondern rupft die Haarreste aus der Haut. Ich halte still, obwohl es ein bisschen weh tut. Ich bin nicht empfindlich. Es ist ganz anders als in der Schule. Der Friseur tut mir weh, aber das macht nichts. In Brasilien musst du nicht zum Friseur.

Mutter war beim Fräulein. Sie sieht abgespannt aus. Das Fräulein hat ihr gesagt, ich wäre nicht bei der Sache, würde nichts verstehen, sei stumm, verstände nicht einmal die deutsche Sprache. Es sei hoffnungslos.

Mutter sagt, ich soll noch Milch holen, gibt mir die Aluminium-Kanne und wickelt Zehnerl und Fünferl in ein Papier. „Dass Du’s mir nicht verlierst!“ Der Milchmann hat seinen Laden in der leichten Kurve, die die Grandlstraße zieht. Die Milch ist in einem meterhohen runden Kanister, den der Mann öffnet. Er taucht den Maßbehälter, den er an einer langen Metallstange hält, tief hinein in den Kanister und füllt mir vier mal einen viertel Liter in meine Kanne. Ich recke mich hoch, reiche das einpapierlte Geld auf den Tresen, nehme die Kanne und sage „Wiederschaun“. Der Milchmann brummt etwas.

Beim Heimgehen sehe ich sie wieder, die Krähe. Sie sitzt da, auf der selben Stelle, oder ist es eine andere? Ich glaube nicht, gehe langsam näher in den Feldrain; sie breitet ein wenig die Flügel aus, bleibt aber sitzen. Ich bleibe vor ihr stehen, sehe, wie ihre Federn glänzen und wie über ihren Augen eine Art samtener Schleier liegt. Sie krächzt und wendet sich leicht zur Seite, als ob sie mir bedeuten will, dass ich mitkommen soll. Dann dreht sie sich wieder um, hält den Kopf schräg und sieht mich an.

Hinter ihr ziehen sich die breiten Ackerstreifen bis zum Abhang an der Würm. Links und rechts am Ufer des Bachs stehen Weiden, Trauerweiden und Buchen und Sträucher. Die Würm entspringt dem Würm-See, hat das Fräulein gesagt. Später haben sie den See „Starnbergersee“ genannt.

Der Vogel hüpft ein paar Schritte von mir weg, hält an und dreht sich zu mir. Komm mit, sagt er, und ich stelle die Milchkanne vorsichtig ab und gehe hinter ihm her. Andere Krähen beobachten uns, und ich gehe, immer weiter, bis der Vogel sitzen bleibt. Ich setze mich auch und sehe mich um.

Drüben liegt die Blutenburg. Auf der anderen Seite, würmaufwärts, steht die Baracke, in der die orthodoxen Mönche wohnen und ihre seltsamen Rituale abhalten. Sie sind vor den Bolschewiken geflohen, heißt es, die sie foltern und umbringen wollten. Man sagt, dass man sie deshalb hier dulden muss, aber keiner mag sie, weil sie unheimliche Bärte tragen und Russen sind.

Die Krähe sitzt nahe bei mir. Ich lege mich in eine Ackerfurche und sehe in den Himmel. Die Blätter der Weiden flirren und der Wind lässt sie klingen. Dazwischen das leise Krächzen des Vogels. Die Würm gluckert, die Wolken ziehen, und jetzt verstehe ich, was mir die Krähe erzählt.

Da drüben, sieh, die Blutenburg. Der Herzog hatte prächtige Büsche pflanzen lassen und ihre Blütenpracht gab der Burg ihren Namen: Blütenburg. Aber er war unglücklich, der Herzog, und er wurde blöde und böse und hat die Seinen verstoßen und seine Ritter in einen sinnlosen Tod ge-
schickt. Seitdem blüht in den Mauern der Burg nichts mehr, nur eine einzige Rose. Wie Blut, tiefdunkel, ist deren Rot. So heißt die Burg jetzt Blutenburg.

Ich liege in der Ackerfurche und sehe in den Himmel. Die Erde in den Händen fühlt sich weich an. Die Krähe ist fortgeflogen. Heute ist Donnerstag. Vater kommt immer am Samstag Nachmittag. Er ist dann den Sonntag über da und reist Sonntag Abend wieder ab.

Mutter erzählt ihm alles. Sie erzählt ihm immer alles. Deshalb erzähle ich ihr nichts. Erst später werde ich wissen, wie dieses Gefühl heißt: Du bist verraten worden.

Vater sagt auch sonst nicht viel. Jetzt wird er den ganzen Sonntag nichts sagen. Er wird mich ver-
prügeln, aber schlimmer ist, er wird mich nicht einmal ansehen.

Die Milchkanne steht noch dort, wo ich sie abgestellt habe. Wie ich bei der Türe hereinkomme, fährt mich Mutter verbittert an: „Wo bist Du so lange gewesen!?“

Am Abend in meiner Kammer. Es ist dunkel geworden. Das Fenster ist offen. Der Westwind trägt das gleichförmige Rollen der rangierenden Züge zu mir her. Das regelmäßige Rattern und Schlagen kommt von den Schweißnähten, die die Schienen zusammenhalten. Ab und zu ist der kurze Pfiff eines Triebwagens zu hören. Die Züge, sie fahren, fahren. Ich fahre mit ihnen, bis nach Brasilien.

Richy Meyer


Manuskript, Sammlung Richy Meyer

Überraschung

Jahr: 1953
Bereich: Kinder

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