Materialien 1951
Tauben im Gras
… Die Säle waren überfüllt. Die Volks- und Völkergemeinschaft, die viel gerühmte, die oft besunge-
ne Gemütlichkeit des Bräuhauses tobte. Aus großen Fässern strömte und schäumte das Bier; es strömte und schäumte in ununterbrochenem Fluss; die Zapfer drehten die Spünde nicht ab; sie hielten die Maßkrüge unter den Strom, rissen sie vom Bier zurück, schnitten sie ab vom Nass und hielten schon den nächsten Krug unter den Fluss. Kein Tropfen ging verloren. Die Kellnerinnen Schleppten acht, zehn, ein Dutzend Krüge zu den Tischen. Das Fest des Gottes Gambrinus wurde gefeiert. Man stieß an, man trank aus, man legte den Krug auf den Tisch, man wartete auf die zwei-
te Füllung. Die Oberländer-Kapelle spielte. Es waren alte Herren in kurzen Lederhosen, die haarige gerötete Knie zeigten. Die Kapelle spielte das Glühwürmchen, sie spielte Sah-ein-Knab’-ein-Rös-
lein-stehn, und alle im Saal sangen das Lied mit, sie fassten sich unter, sie standen auf, sie stellten sich auf die Bierbänke, sie hoben die Krüge und brüllten langgezogen gefühlsbetont Röslein-auf-der-Hei-heiden. Man setzte sich wieder. Man trank wieder. Väter tranken, Mütter tranken, kleine Kinder tranken; Greise umstanden den Waschbottich und suchten nach Bierneigen in den abge-
stellten Krügen, die sie durstig gierig hinunterspülten. Man sprach von der Ermordung des Taxi-
fahrers. Ein schwarzer Soldat hatte einen Taxifahrer ermordet. Es war Josefs Tod, von dem ge-
sprochen wurde; aber die Fama hatte aus dem Dienstmann einen Taxifahrer gemacht. Ein Dienst-
mann schien der Fama ein zu armes Opfer für einen Mord zu sein. Die Stimmung war den Ameri-
kanern nicht günstig. Man schimpfte, man raunzte; man hatte zu klagen. Bier hebt in Deutsch-
land das nationale Bewusstsein. In andern Ländern regt Wein, in manchen vielleicht Whisky den Nationalstolz an. In Deutschland ist das Bier der die Vaterlandsliebe belebende Stoff: ein dumpfer, ein nicht erhellender Rausch. Den einzelnen Angehörigen der Besatzung, die sich in den Hexen-
kessel des Bräuhauses verirrt hatten, begegnete man nachbarlich freundlich. Viele Amerikaner liebten das Bräuhaus. Sie fanden es großartig und gemütlich. Sie fanden es noch großartiger und noch gemütlicher als alles, was sie darüber gelesen oder gehört hatten. Die Oberländer-Kapelle spielte den Badenweiler Marsch, den Lieblingsmarsch des toten Führers. Man brauchte der Kapelle nur eine Lage zu spendieren, und sie spielte den Marsch, der den Einzug Hitlers in die Versamm-
lungssäle der Nationalsozialisten begleitet hatte. Der Marsch war die Musik der jungen und ver-
hängnisvollen Geschichte. Der Saal hob sich wie eine einzige geschwellte Brust der Begeisterung von den Plätzen. Es waren nicht Nazis, die sich da erhoben. Es waren Biertrinker. Die Stimmung allein machte es, dass alle sich erhoben. Es war nur eine Gaudi! Warum so ernst sein? Warum an Vergangenes, Begrabenes, Vergessenes denken? Auch die Amerikaner wurden von der Stimmung mitgerissen. Auch die Amerikaner erhoben sich. Auch die Amerikaner summten den Marsch des Führers, schlugen mit Füßen und Fäusten den Takt. Amerikanische Soldaten und davongekom-
mene deutsche Soldaten umarmten sich. Es war eine warme rein menschliche Verbrüderung ohne politische Absicht und diplomatischen Handel …
Wolfgang Koeppen, Tauben im Gras, Stuttgart/Hamburg 1951, 184.