Materialien 1951

Zuerst ins Kraut schießen

CANARIS

Die Inhaberin der Münchener Residenz-Bücherstube kommt nicht vom Telephon. Alle fünf Minu-
ten muss sie jemanden von der „Münchener Uraufführungsbühne“ herbeiholen. Die Mitglieder der Uraufführungsbühne proben noch immer, obwohl der bayerische Ministerrat die für den 19. Janu-
ar vorgesehene Uraufführung des Zeitstücks „Canaris“ vorerst durch den Beschluss vereitelt hat, das Theater am Brunnenhof – entgegen einer ursprünglichen Vereinbarung – nicht zur Verfügung zu stellen. So ist die Uraufführung des Stückes über den „Kunktator der Widerstandsbewegung gegen Hitler“ noch ungewiss.

Der Ministerrat ließ dem Vorstand der Bühne mitteilen, man habe Bedenken allgemein politischer Art gegen eine Aufführung des Stoffes auf einem staatlichen Theater, gleichgültig, ob man das Stück vorher genau kenne oder nicht. Der Stoff „Canaris“ und der 20. Juli eigneten sich wohl noch nicht zu dichterischer Gestaltung. Der Zeitraum, der seit diesen historischen Ereignissen verstri-
chen ist, sei noch zu kurz.

Der Anstoß zu dieser Aktion der bayerischen Politiker war ein telegraphischer Protest von Frau Erika Canaris, der Witwe des ehemaligen deutschen Abwehrchefs, die jetzt in Barcelona, Spa-
nien, lebt. Der Autor des „Canaris“-Stückes, Arthur Müller, lässt das an ihn gegangene Telegramm gerade faksimilieren. „Dem Sinne nach lautet es so: Betrifft Schauspiel Canaris. Ich untersage Ihnen, das Stück zu spielen. Ich verbiete auch jede andere Verbreitung. Ich verlange Bestätigung, dass weitere Proben eingestellt sind.“ Entsprechende Telegramme seien an Bundeskanzler Ade-
nauer und an den bayerischen Justizminister Dr. Josef Müller gegangen.

Der 42jährige Arthur Müller, der eine siebenköpfige Familie und in Gröbenzell ein Eigenheim hat, ist Kummer gewöhnt. 1950 erhielt er den Literaturpreis des Verbandes südwestdeutscher Autoren für die beste Arbeit über das Revolutionsjahr 1848. Trotz des Preises lehnten die Bayerischen Staatstheater das Stück ab (es heißt „Im Namen der Freiheit“, der Weg Robert Blums vom Frank-
furter Parlament zum Wiener Militärstandgericht).

Daraufhin holte Dramatiker Müller, während des Krieges einfacher Gebirgsjäger, seinen 1947 ge-
schriebenen „Canaris“ aus der Schublade.

1951 sah Arthur Müller, der eine Zeitlang Chefdramaturg beim Verlag Kurt Desch war, heute aber wieder freier Schriftsteller (mit einem Monatsfixum von Desch) ist, endlich bei der Münchner „Ur-
aufführungsbühne“ die Chance für seinen „Canaris“. Die Uraufführungsbühne ist ein Verein. Der Vorsitzende ist Professor Hans Gebhart, Konservator der Staatlichen Münzsammlung in München.

Kaum glaubte Autor Müller, die Aufführung seines „Canaris“ sei gesichert, da kam das Telegramm aus Barcelona. Autor Müller: „Wir diskutierten darüber drei Stunden lang auf einer Sitzung des Vorstands. Staatsanwalt Dr. Weiss lud mich anschließend zu einer privaten Unterredung bei einer Tasse Kaffee ausdrücklich nicht beim Justizminister, sondern bei Herrn Dr. Josef Müller ein, um den ganzen Komplex zu besprechen.“1 Josef Müller wollte an Hand des Manuskripts prüfen, ob das Stück eine Verunglimpfung des Widerständlers Canaris darstellt.

Arthur Müller wunderte sich, dass die Tasse Kaffee im Amtszimmer des Justizministers ge-
trunken werden sollte. „Ich musste eine halbe Stunde warten. Tasse Kaffee war nicht da. Mit dem persönlichen Gespräch war nichts. Herbeigerufen wurde Herr Staatsanwalt Dr. Weiß. Ich eröffnete das Gespräch. Da sagte der Minister: ‚Es hat gar keinen Sinn, hier allgemeinen Schmonzes zu re-
den.’ Wirklich, er sagte ‚Schmonzes’. ‚Haben Sie das Manuskript bei sich?’ Darauf ich: ‚Ja’. Darauf Herr Justizminister Dr. Müller: ‚Geben Sie das Manuskript heraus? Ich werde es sofort an Frau Canaris in Barcelona sowie nach Bonn an Herrn John, Herrn Oster und an Herrn Lahusen weiter-
geben.2 Darüber hinaus haben wir uns über keinen Punkt zu unterhalten.’

Ich sagte ihm, dass ich unter diesen Umständen nicht gewillt sei, das Manuskript herauszugeben. Ich sei bis zu diesem Augenblick und auch weiterhin bereit, ihn in jeder Form mit dem Stück be-
kannt zu machen, aber nicht unter dieser Auflage. Ich habe zum Ausdruck gebracht, dass es sich nicht nur um meine Person, sondern um eine Angelegenheit der deutschen Autoren und der geisti-
gen Freiheit handele.“

„Mein Arm ist lang genug, dass Ihnen bzw. der Uraufführungsbühne sämtliche Gelder gesperrt und das Theater entzogen wird“, habe Justizminister Dr. Müller gedroht. „Dann können Sie sehen, wo Sie mit Ihrem Stück bleiben.“

Autor Müller bat, sich verabschieden zu dürfen. Man legte ihm nahe, sich die Sache zu überlegen. „Die Verabschiedung war förmlich, aber nicht explosiv.“ Zu Hause legte sich Autor Müller vor-
sichtshalber eine Aktennotiz über den Verlauf des Gespräches an.

Auch Staatsanwalt Dr. Weiß hat sich über den Verlauf der Zusammenkunft Notizen gemacht: „Nach Autor Müllers einleitenden Worten erklärte der Minister: ‚Wir brauchen uns nur darüber zu unterhalten: Geben Sie das Manuskript oder nicht?’ Und nach kurzer Zeit: ‚Sie werden mich ken-
nen. Wir wollen keinen Schmonzes machen.’ Die Unterhaltung dauerte etwa 20 Minuten. ‚Verlan-
gen Sie das Buch in Ihrer Eigenschaft als Minister?’ fragte der Autor. Antwort von Dr. Josef Müller: ‚Das spielt doch keine Rolle. Ich verlange es.’“

Nach den Notizen des Staatsanwalts hat der Justizminister zwar nicht gesagt, er könne mit seinem langen Arm der Uraufführungsbühne sämtliche Gelder sperren, aber folgendes geäußert: „Ich ma-
che keinen Hehl daraus, dass ich mit allen Mitteln versuchen werde, zu verhindern, dass der Staat für eine solche Sache Geld gibt und seine Bühnen zur Verfügung stellt.“

„Ich kann das nicht verstehen“, meint Dramatiker Müller noch immer. „Mein Stück ist ja kein Ca-
naris-Stück im Sinne einer dramatischen Reportage. In der Person von Canaris sind viele andere Figuren und Kräfte zusammengeronnen.“

„Mein Stück zeigt die Tragik des deutschen Nationalismus. Die Bestrebungen dieser Art Nationa-
lismus waren losgelöst vom Volk, sie konnten einen gewissen Einfluss nur in einer bestimmten Gesellschaftsschicht ausüben. Sie konnten nie das Volk oder einen Teil des Volkes für sich auf-
rufen.“

Das Stück beginnt 1923 mit einer Verteidigungsrede des Marineoffiziers Hans Canaris vor dem Leipziger Reichsgericht. „Eine blendende Verteidigungsrede“, sagt Autor Müller und extemporiert die Worte des Admirals: „Ich war kaiserlicher Offizier. Wir haben 1918 die Ordnung wiederherge-
stellt. Wir haben Recht und Gerechtigkeit und damit dieses Gericht eingesetzt. Und Sie wollen mir vorwerfen, ich sei ein Hochverräter.“ (Der geschichtliche Hans Canaris war nie vor dem Reichsge-
richt angeklagt, man hat ihm lediglich im Reichstag vorgeworfen, er habe die Mörder Karl Lieb-
knechts und Rosa Luxemburgs als Beisitzer des Feldkriegsgerichts, das die vier beteiligten Offiziere freisprach, gedeckt.)

Im zweiten Bild, nach der schicksalhaften Begegnung mit Julia, einer Jüdin, fühlt Canaris „die Berufung zu einem großen Schicksal“. Diese Ahnung bestätigt sich mit der Berufung ins Reichs-
wehrministerium, in eine Stellung hinter den Kulissen. Julia, die Frauenfigur des Stückes, ist und wird nicht die Geliebte Canaris’. Autor Müller: „Es handelt sich hier um das Verhältnis zwischen zwei Menschen, die sich vom Geistigen her irgendwie anziehen. Das gibt der Sache eine eigenartige Spannung.“

Nachdem Julia gegangen ist, sieht Canaris in den Spiegel. Er spricht mit seinem Schatten, „seinem aus sich heraus projizierten Wunschwillen“. Der sagt ihm: „Dein Weg ist solange nicht vollendet, bis du sichtbar erhöht sein wirst.“ Regisseur Wiemuth, zuletzt Synchronmann bei der englischen Filmgesellschaft Eagle Lion, will dafür das Tonband einsetzen.

„Alle Monologe“, erklärt Autor Müller, „werden nicht auf der Bühne gesprochen, sondern nur bei geschlossenem Mund in der Mimik gespiegelt. Die Worte kommen sozusagen privat über Tonband. Auf diese Weise kann man einen Menschen dasitzen und denken lassen. Der Film hat das zum er-
stenmal bei ‚Hamlet’ gemacht.“

Regisseur Wiemuth will alle Register heutiger Ton- und Filmtechnik einsetzen: Fetzen aus der Sta-
lingradrede von Goebbels, Wochenschaustreifen mit Städtetrümmern. Er will diese Bilder nicht etwa auf den Vorhang, sondern einfach über die Szene werfen.

„Ungefähr im 7. oder 8. Bild“, erzählt Autor Müller, „fällt Canaris turnusmäßig der Vorsitz in einem Ehrengerichtsverfahren gegen einen Fähnrich zu. Das Interesse Canaris’ für den an sich uninteres-
santen Fall wird größer, als er erfährt, dass der junge Mann gute Beziehungen zu einem Herrn Hit-
ler in München hat. Fähnrich zur See Reinhard Heydrich wird aus der Reichsmarine ausgeschlos-
sen. Canaris weist dem moralisch Zusammengebrochenen jedoch die Chance: Kontaktmann der Reichswehr zu Hitler. Mit Reinhard Heydrich, dem späteren Zwingherrn von Prag, holt Dramati-
ker Müller die große Gegenfigur ins Spiel. (Der historische Canaris saß nicht im Ehrengericht, das Reinhard Heydrich schasste. Dagegen stimmt es, dass Canaris als 1. Offizier des Kreuzers „Berlin“ zeitweilig der Vorgesetzte des Seekadetten Heydrich war. Diese Drängerrolle verfälscht die Persön-
lichkeit des Admirals vermutlich am krassesten. Er hat den Widerstand toleriert und allenfalls ge-
fördert, aber er war nie im Widerstand aktiv.)

Ein späteres Bild spielt unmittelbar vor der Machtübernahme. Ein jüdischer Intellektueller sieht, wohin die Dinge rollen. Er will den Admiral Canaris zur Tat bewegen. Man müsse bloß han-
deln, dann sei der Spuk weggefegt. Der Admiral stellt dagegen: Man müsse die Dinge erst ins Kraut schießen lassen, um sie wirklich vernichten zu können. „Im Ziel sind wir gleich, im Weg verschie-
den“, sagt der Bühnen-Canaris. Die Röte des Reichstagsbrandes leuchtet ins Fenster. Heydrich tritt als anmaßender Herr auf.

„So kann es nicht mehr weitergehen“, sagt ein Industrieller 1938. Admiral Canaris, jetzt Leiter des deutschen militärischen Wehrmachts-Nachrichtendienstes, der „Abwehr“: „Ich warte seit fünf Jah-
ren auf den, der sagt: So darf es nicht weitergehen. Eine kleine Nuance, aber von kleinen Nuancen hängt das Schicksal der Völker ab.“

Vor Polen beschwört Canaris die Generale: „Wir müssen putschen. Jetzt ist die Chance da. In dem Augenblick, wo die Mobilmachung ausgesprochen wird, bekommen Sie die Gewalt in die Hände. Marschieren Sie! Aber nicht nach Warschau, sondern auf Berlin.“ Wieder kommt alles anders, wie jedermann weiß. Ehe Reinhard Heydrich nach Prag geht, setzt Canaris alles auf eine Karte. Er lässt seine Maske fallen. Aber da setzt das Schicksal die Gegenfigur Heydrich ein.

Das Stück zeigt, wie Canaris am 20. Juli von der Geheim-Meldung „In einer Stunde ist Hitler tot“ elektrisiert wird. Der Abwehrchef verhört noch rasch einen englischen Agenten. Er bietet ihm eine Sendeanlage zur Durchgabe der Totmeldung. Der Engländer teilt die Gemütsbewegung nicht. „In Deutschland wird auch kein Admiral mehr herrschen“, sagt er. Man hört via Tonband Panzer fahren. Das Wachregiment, soll das Publikum wissen. Dann Tritte. „Jetzt kommen sie“, frohlockt Canaris, „jetzt ist der Augenblick meines Lebens da, jetzt brauchen sie mich.“

„Hitler ist tot?!“, ruft er den Eintretenden zu. „Sind Sie wahnsinnig?!“, sagt der Führer des Verhaf-
tungskommandos.

Die beiden letzten Bilder: Canaris in der Gefängniszelle unmittelbar vor der Einnahme Berlins. Er liest zwei Stellen bei Napoleon, ob ein Mensch das Recht habe, Selbstmord zu begehen. „Ein ein-
seitiger Monolog“, erklärt der Autor, „da reißt der Vorhang des Tempels auf.“ Canaris’ Schatten fällt über den Galgen im Nebenraum. „Ich habe Ihnen versprochen, in dem Augenblick, in dem Sie erhöht sein werden, Sie wiederzusehen. Voilà“, sagt der Schatten. „Und Deutschland?“, fragt Cana-
ris mit dem Gesicht zum Galgen. Der Schatten antwortet: „Deutschland ist tot.“ Worauf Canaris, ehe die Schergen zufassen, sich herumreißt: „Es lebe Deutschland.“

„Er schreit das nicht“, beteuert Autor Müller, „es kommt nicht wie ‚Der König ist tot. Es lebe der König!’, es kommt beschwörend. Es kommt so: Deutschland muss anders leben, damit es leben kann.“

„Nun möchte ich wissen“, fragt Dramatiker Müller, „warum mein Stück nicht gespielt werden soll. Zeittheater appelliert an die Gemeinschaft. Es verlangt von der Zuschauerschaft eine Entschei-
dung. Sogar in Schiller-Stücke kann ich gehen und muss keine Entscheidungen treffen. Ich brau-
che mich nur zu amüsieren. Im Zeitstück muss ich mich entscheiden: Der Mann hat recht, oder er hat nicht recht.“

Autor Arthur Müller kann sich immerhin an eine sehr gemütliche Unterhaltung mit dem Justizmi-
nister Josef Müller erinnern. „Das war im Bayernhaus in Bonn, bei einem gemeinsamen Freunde, dem Bundestagsabgeordneten Dr. Oesterle. Oesterle und ich, wir waren in Hausschuhen, als der Minister kam. Oesterle erzählte ihm von meinem Stück. ‚Warum wird es nicht gespielt’, fragte mich der Minister. Ich sagte: ‚Es liegt bei Intendant Lippl, und der hat Angst.’ ‚Wovor?‘, fragte mich Dr. Müller, und ich sagte: ‚Vor Eana.’ Der Dialog wurde gut bayerisch geführt.

„Damals sagte mir der Minister, er würde nichts gegen das Stück unternommen haben. Er hätte es sich nur angeschaut und dann höchstens zum Ausdruck gebracht, dass der dramatisierte Canaris nicht mit dem Canaris der Wirklichkeit übereinstimme.“

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1 Justizminister Josef Müller, während des Krieges Hauptmann in der Abwehr, vertritt die Belange der Frau seines früheren Chefs, die gleichzeitig seine eigenen Belange sind, da die früheren Angehörigen der Abwehr wegen formaljuristisch-landes-
verräterischer Handlungen noch heute angefeindet werden. Canaris wurde am 9. April 1945 im KZ Flossenburg hingerich-
tet.

2 Dr. Otto John ist Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Oster war Stabschef unter Canaris, Lahusen war Ab-
wehroffizier.


Der Spiegel 3 vom 16. Januar 1952, 26 ff.

Überraschung

Jahr: 1951
Bereich: Zensur

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