Materialien 1952

Die schwarze Spinne

Hinter dem Chronisten, ihn überragend, auf einem übermannshohen Haubenstock ein mächtiger silberner Ritterhelm mit geöffnetem Visier.

Es ist ein dunkles Lied, das ich beginne.
Kein neues Lied. Das alte Lied vom Leid.
Und von der großen Angst, der Schwarzen Spinne.
Still wie die Pest lief sie durchs Land der Zeit.

Lautlos erklomm sie noch die höchste Zinne.
Und ließ sich nieder auf den Schlaf der Stadt.
Sie trank die Herzen leer, die Schwarze Spinne.
Die Stadt war tot. Die Spinne war nicht satt.

Sie lief durchs Land der Zeit. Und hielt nur inne,
wo wieder Menschen wohnten, Haus bei Haus.
Sie wob ihr Netz aus Gift, die Schwarze Spinne.
Und fing die Menschen ein. Und trank sie aus.

Doch eines Tages trat, mit Schwert und Brünne,
ein Ritter klirrend vor den Hohen Rat.
„Mein Leben oder das der Schwarzen Spinne!
Ich werd sie finden! Segne mich, Prälat!“

Man sang und segnete, dass er gewinne.
Er stieg aufs Pferd. Dann schloss er das Visier.
Da schrieen sie alle auf: „Die Schwarze Spinne!“
Er ritt davon, bewaffnet bis zum Kinne.
Und dachte nur: „Was wollen sie von mir?“

Das Visier des Ritterhelms rasselt herunter. Oben auf dem Helm sitzt die Schwarze Spinne.

Die Schwarze Spinne aber saß auf seinem Helm!

So ritt und ritt er, der Ritter und Retter.
Doch die Kunde, er käm, ritt noch schneller als er.
Es flohen die Bauern. Es flohen die Städter.
Er sah sie fliehen und ritt hinterher.

Sie krochen in Höhlen. Sie sprangen in Flüsse.
Sie schwammen zitternd hinaus ins Meer.
Er wollte nur fragen, ob man nicht wisse,
wo denn die Schwarze Spinne wär.

Die Schwarze Spinne aber saß auf seinem Helm!

So ritt er und trieb die Menschen zu Paaren.
Bis er ermattet vom Pferde sank.
Warum sie flohen, er hat’s nie erfahren.
Sein letztes Wort war: „Das ist nun der Dank!“

Morgens lag die Rüstung, fern der Straße,
neben einem wilden Schlehenstrauch.
Und ein Pferd stand angepflockt im Grase.
Und ein Schwert und ein paar Knochen sah man auch.

Und eine Schwarze Spinne schlief in einem Helm.

Das Visier öffnet sich langsam. Das Helm-Innere ist von Spinnweben überzogen. Dahinter; am Netze hängend, sieht man die Schwarze Spinne.

Erstaufführung in Die kleine Freiheit,
6. Programm vom 21. März 1952.


Erich Kästner, Wir sind so frei. Chanson, Kabarett, Kleine Prosa. Werke in neun Bänden, Bd. II. Hg. von Hermann Kurzke in Zusammenarbeit mit Lena Kurzke. München/Wien 1998, 279 f.

:::

1 In Jeremias Gotthelfs berühmter Erzählung „Die schwarze Spinne“ aus dem Jahr 1842 befällt eine mörderische Giftspinne das Land, nachdem die Bauern einen Pakt mit dem Teufel nicht eingehalten haben.

Überraschung

Jahr: 1952
Bereich: Kommunismus

Referenzen