Materialien 1952
Brief an die Freiburger Studenten
Sehr geehrter Herr Linke!
Darf ich Ihnen meine Ansicht kurz im Zusammenhang skizzieren, also ohne den Komplex vierzuteilen?
Wenn die Anhänger der echten und insofern die Gegner einer nur formalen Demokratie nicht scharf aufpassen, wird die noch sehr junge und ganz und gar nicht gesunde Bundesrepublik solange mit dem Schwert der Gerechtigkeit herumfuchteln, bis sie auf diese Weise, obzwar versehentlich, Selbstmord begeht. Das Weimarer Harakiri dürfte noch in bester Erinnerung sein.
Das Hamburger Gericht sprach Herrn Harlan frei. Nicht einmal zu einem befristeten Berufsverbot reichte das »objektive« Finden des Rechts aus. Also waren die Filmproduktion und der Filmverleih im Recht, Herrn Harlan umgehend zu beschäftigen. Also sind die Kinobesitzer im Recht, seine Filme vorzuführen. Also ist die Polizei im Recht, gegen Demonstranten einzuschreiten. Also sind die einzigen Menschen, die im Unrecht sind, diejenigen, die ihr Gewissen aufruft, im Namen der Menschlichkeit gegen eine derartige Gerechtigkeit und ihre sichtbaren, wie unabsehbaren Folgen zu protestieren.
Wäre der Fall Harlan ein Einzelfall, ginge es noch eben an. Aber er ist ein Symptom. Und so bleibt all denen, die das Wesen der Demokratie lieben und eine demokratische Heimat wünschen, seien sie nun Atheisten, Lutheraner oder Katholiken, nichts übrig, als »Protestanten« zu werden. Das Harakiri entspricht nicht ihren Plänen für die Zukunft.
Mit den besten Grüßen an die Kommilitonen
Ihr EK
Erich Kästner, Wir sind so frei. Chanson, Kabarett, Kleine Prosa. Werke in neun Bänden, Bd. II. Hg. von Hermann Kurzke in Zusammenarbeit mit Lena Kurzke. München/Wien 1998, 223.