Materialien 1953

Kriegsopfer im Karussell

Bauer überführt Amtsarzt, der Versehrten in den Tod trieb

Im Jahr 1950 waren nicht weniger als vier Millionen Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene in der Bundesrepublik gemeldet – 8,3 Prozent der Gesamtbevölkerung! In Bayern lag der Anteil noch weit darüber, weil sich hier zahlreiche Lazarette befanden und der Flüchtlingsstrom zusätz-
liche Belastungen mit Kriegsversehrten brachte. Für viele Kriegsopfer bedeutete die Anerkennung einer Rente einen Spießrutenlauf durch Ämter und Praxen, nicht wenige fielen durch den Rost.

Dies ist die tragikomische Geschichte zweier Kriegsversehrter, die als Soldaten ihre Gesundheit ge-
opfert hatten und nun die Opfer eines gewissenlosen Arztes wurden. Beiden wurde durch leichtfer-
tige Fehldiagnosen des Münchner Privatdozenten Dr. med. habil. Hans Braun die Rente entzogen. Der eine nahm sich deswegen am 3. Februar 1953 das Leben; der andere, ein pfiffiger Bauer, konn-
te den Arzt durch einen genialen Trick überführen, und darum entbehrt diese Tragödie auch nicht einer gewissen Komik.

Da war einmal der Fall Georg Kulik, der im ersten Weltkrieg als 17-jähriger einen schweren Bauch-
schuss erlitt und seither unter schweren Koliken und Blutungen litt. „Hundertprozentig kriegsbe-
schädigt“ lautete 1948 die Diagnose, die ihm eine spärliche Rente verschaffte. Aber im folgenden Jahr kam er zur erneuten Untersuchung in das Versehrtenkrankenhaus Possenhofen bei Starn-
berg, und dort wurde ihm von dem Vertrauensarzt Dr. Hans von Hoesslin die Rentenbedürftigkeit wieder aberkannt.

Kurze Zeit später hob das Bayerische Oberversicherungsamt den Possenhofener Bescheid auf. Ku-
lik galt also wieder als hundertprozentig erwerbsunfähig. Aber er war schon in die Mühle der Bü-
okratie geraten, aus der er keinen Ausweg mehr fand. Er war ein sogenannter „versorgungsärztli-
cher Zweifelsfall“ geworden, der von Instanz zu Instanz geschleppt wurde, während die Folgen der Kriegsverletzung sich immer mehr verschlimmerten.

Schließlich musste sich Georg Kulik dem Doktor Hans Braun, der als Sachverständiger der Kriegs-
opferabteilung beim bayerischen Arbeitsministerium tätig war und nebenbei an der Universität über Diagnostik las, zu einer neuerlichen amtsärztlichen Untersuchung stellen. Braun, der in Kol-
legenkreisen wenig Achtung genoss, seitdem er einmal von kompetenter Seite einer Falschbehand-
lung bezichtigt wurde, setzte Kuliks Kriegsbeschädigung von hundert Prozent kurzerhand auf null Prozent herab. Dessen Leiden sei „anlagebedingt“, gutachtete er. Wieder sollte dem schwerkranken Mann die Rente entzogen werden.

Zwar schaltete sich nun der Kriegsopferverband VdK ein, zwar schrieb Kuliks Privatarzt Dr. Ernst Glasser: „Es ist dem Kranken schreiendes Unrecht geschehen, wie es in diesem Ausmaß wohl ein-
malig ist.“ Aber Georg Kulik, Vater von vier Kindern, hatte nicht mehr die Kraft, gegen dieses Unrecht anzukämpfen. Er erhängte sich in seiner Wohnung. Seiner Frau hinterließ er einen Ab-
schiedsbrief, in dem es hieß: „Die seelischen und körperlichen Qualen ertrage ich nicht mehr … Bin ich mit 17 Jahren gesund gewesen zum Militär, lasse ich mir ein Kriegsleiden nicht als Erbanlage zuschreiben. Liebe Frau, ich danke Dir für Deine Aufopferung …“.

Nun wurde man auf den Fall aufmerksam. Kuliks Leiche wurde ausgegraben und obduziert. Nach 12-tägiger gewissenhafter Untersuchung stellten die Professoren Gloggengiesser und Hueck vom Pathologischen Institut der Universität München in einem 11-seitigen Gutachten fest: „Die jahr-
zehntelange Erkrankung des Herrn Kulik, seine Erwerbsunfähigkeit und seine Pflegebedürftigkeit standen mit Sicherheit in einem unmittelbaren, ursächlichen Zusammenhang mit seiner 1917 er-
littenen Becken-Bauchschuss-Verletzung und sind damit Rentenanspruchsleiden.“

Inzwischen war Dr. med. habil. Hans Braun ein anderer „Lapsus“ unterlaufen, der allerdings we-
niger Aufsehen erregte, weil er eher komisch als tragisch endete. Im November 1951 untersuchte er den Bauern Leonhard Holzer aus Wolfratshauen. Holzer, Vater von sechs Kindern, hatte sich 1944 in Russland ein schweres Nierenleiden zugezogen und erhielt seitdem eine 70-prozentige Kriegs-
beschädigtenrente. Aufgrund der Untersuchung von Braun wurde ihm die Herabstufung seiner Kriegsbeschädigung auf null Prozent mitgeteilt.

Holzer fraß nun den Ärger nicht in sich hinein, wie sein Leidensgenosse Kulik, sondern ging zum Angriff über. „Nächtelang hab’ ich sinniert, wie man sich gegen eine solche Ungerechtigkeit wehren könnt’, und auf einmal hat mei’ Stalllatern’ aufg’leucht“, erzählte der pfiffige Bauer, der sich auch darüber ärgerte, dass ihn der Weißkittel bei der Untersuchung in München vor seinen Sekretärin-
nen wegen seines bäuerlichen Auftretens lächerlich machen wollte.

Eines Tages also ließ er sich einen „Stiftenkopf“ schneiden, setzte eine pompöse Sonnenbrille auf die Nase, zog seinen Sonntagsanzug an und sprach – „quasi als Intelligenzperson“ – wieder bei Dr. Braun in München vor. Er wolle sich als Privatpatient beraten lassen, sagte er dem Arzt, der ihn nicht wiedererkannte, zumal sich der Bauer Holzer nun als „Gutsbesitzer Stangl“ ausgab.

Was dem armen Kriegsbeschädigten nicht gegönnt war, erlebte nun der angeblich vermögende Privatpatient: Er wurde nicht nur äußerst zuvorkommend behandelt und eingehend untersucht, sondern – der nämliche Arzt, der ihn einige Monate vorher sozusagen k.v. (kriegsverwendungsfä-
hig) geschrieben hatte, konstatierte nun, dass er sehr krank sei, streng Diät halten müsse und nichts arbeiten dürfe. Der „besorgte“ Gutachter machte ihm sogar Vorhaltungen, weil er mit der Eisenbahn nach München gekommen war. Bei der Erstuntersuchung hatte es derselbe abgelehnt, die Autofahrtkosten Holzers gutzuschreiben, weil dieser „die normalen Verkehrsmittel hätte be-
nützen können.“

Einige Zeit später wurde Georg Holzer nach einer erneuten amtsärztlichen Untersuchung im Ver-
sehrtenkrankenhaus Bad Tölz als hundertprozentig kriegsbeschädigt anerkannt. Er hatte sein Recht bekommen, das ihm der Arzt Dr. Braun zuerst vorenthalten wollte.

Braun war inzwischen vom bayerischen Arbeitsministerium seines Amtes als Sachverständiger enthoben worden. Der VdK prüfte die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen fahr-
lässiger Amtshandlung. Und der bayerische Landtag empörte sich dieser Tage einheilig über das „verantwortungslose Gebaren gewisser Amtsärzte. Georg Kulik aber war tot!

Was weiter geschah

Nicht weniger als 19.000 Kriegsversehrte waren 1950 in München auf die Straße gegangen, um für eine Anpassung ihrer Renten zu demonstrieren. Erst als der Verband der Kriegsopfer, der noch heute ein sozialpolitischer Faktor in Deutschland ist, im Frühjahr 1956 einen „Marsch des Grau-
ens“ von München nach Bonn organisierte und eine „Knochenliste“ präsentierte, wurde das skan-
dalöse Rentenniveau nach dem Bundesversorgungsgesetz angehoben.


Karl Stankiewitz, Weißblaues Schwarzbuch. Skandale, Schandtaten und Affären, die Bayern er-
regten, München 2019, 118 ff.