Flusslandschaft 1956
Armut
„Selbstmord – ohne Obdach –– Vorgestern, am Tage seiner Entlassung aus dem Krankenhaus, wohin er am 4. Dezember nach einem Selbstmordversuch gebracht worden war, vergiftete sich der obdachlose, 55 Jahre alte, beinamputierte Sebastian Scheidl mit Tabletten. Gestern früh sah ein Fußgänger am Isarufer gegenüber der Kreuzung Wittelsbacher-/Klenzestraße einen toten Mann liegen. Der Oberkörper hing im Wasser, der Kopf wies blutige Schrammen auf. Die Kriminalpolizei stellte fest, dass es sich bei dem Toten um Sebastian Scheidl handelte. Er hatte auf der Uferböschung die Tabletten eingenommen und war dann bewusstlos den Hang hinunter in den Fluss gerollt, wobei er sich die Kopfverletzungen zugezogen hatte. Die leeren Tabletten-Röhrchen lagen im Gras …“1
24. Mai: „Das Sozialreferat der Stadtverwaltung hat dieser Tage einen umfassenden Rechenschaftsbericht herausgegeben, der sich mit der Lage der Münchner beschäftigt, an denen das Wirtschaftswunder bisher spurlos vorüberging: den Rentnern und Fürsorgeempfänger. Allein in München müssen rund fünfundzwanzigtausend Menschen mit Beträgen, die andere für eine vierzehntägige Urlaubsreise disponieren, ein Jahr und länger auskommen.“2
1 Süddeutsche Zeitung vom 27. Januar 1956.
2 Stadtchronik, Stadtarchiv München.