Materialien 1954

Und keiner weint mir nach

- zu zwei Kindheitsgeschichten

Siegfried Sommer, Jahrgang 1914, ist in München & in seiner Heimat, als „Blasius, der Spaziergän-
ger“ bekannt. Seine skurrilen, raunzenden, scheinbar aus der Luft des Hofbräuhauses kommenden Kommentare zu den landeshauptstädtischen Ereignissen erscheinen jeden Freitag in der „Abend-
zeitung“. Blasius ist beliebt, – ein bayerischer Volksschriftsteller. Dass er hintergründig, sokra-
tisch, ein Durchschauer und Wahrheitssucher ist, dass er aus Einsamkeit, Schwermut und Men-
schenliebe berichtet, die auch den Menschenhass einschließt, wurde von seinem Publikum bisher gutmütig übersehen.

Nun hat Sommer einen Roman geschrieben: Und keiner weint mir nach. Die „Süddeutsche Zei-
tung“ veröffentlichte das Manuskript und bald hagelte es Proteste. Die Fortsetzungsromanleser waren empört. Sie hatten wohl etwas „Komisches mit Herz“ erwartet und begegneten nun einem Schriftsteller, einem sehr gegenwärtigen, einem sehr ernsten Schriftsteller, einem Beunruhiger, der wirklich „komisch und mit Herz“ schreibt, nur auf eine Art, die diese Leser nicht gewohnt waren: unsentimental, realistisch, sehr hell, sehr wach, sehr dicht. Es waren der Geist und der Stil eines Dichters, die entsetzten; es war ein moderner Roman, der herausforderte. Sommer erhielt die üb-
lichen Titel: Nihilist, Schmutzaufwirbler, gottloser Zerstörer der heiligsten Güter.

Inzwischen ist der Roman bei Kurt Desch (München) als Buch herausgekommen, und verwundert fragt man sich, was eigentlich die Zeitungsleser so sehr erregt hat. Sommers Buch ist nicht grell, es ist zart. Der Roman enthält die Geschichte einer Kindheit, wahrscheinlich der Kindheit des Verfas-
sers. Es ist eine Erzählung der Armut, der Angst, der Scham, der geflickten Hosen, des Rohrstocks, des Miefs aus engen Stuben, der Kunsthonigbrote, der kleinen Daseinsfreuden, der großen Da-
seinstraurigkeit und einer nie obszönen Kindererotik.

In einem Münchner Volksviertel steht in der Mondstraße eine Mietskaserne. Dort wächst bei sei-
ner hindämmernden, von Bier sich nährenden Großmutter der Leo auf, ein scheues, ein verlasse-
nes, ein uneheliches Kind. Die Welt ist gleichgültig, die Welt ist böse, sie ist selten freundlich. Der Junge spielt ohne Spielzeug, er träumt, er versteckt sich, er gewinnt Freunde, er bekommt Prügel, er geht durch die Volksschule, er kommt in eine Handwerkslehre, der Meister stellt die Zahlungen ein, der Junge wird arbeitslos, wieder steht er träumend, wieder einsam und verloren im zugigen Tor der großen Mietskaserne. Ist das zersetzend? Die Welt ist an vielen Orten so: arm, kalt und verlassen. Sommer gibt dieser armen Welt sogar nachträglich Licht und Wärme. Eine hässliche, eine schmutzige Gasse ist die Mondstraße, aber Sommer verklärt sie, indem er nichts verschwieg; die Straße ist Poesie geworden und wird als poetische Landschaft in der Erinnerung des Lesers leben. Der junge Leo vergiftet sich. Keiner weint ihm nach. Keiner? Sommers Buch rührt; es rührt, weil es ein seltsam reines Buch ist.

Der Kindheit erinnert sich auch das Buch eines neuen amerikanischen Autors: D. Salinger, „Der Mann im Roggen“ (Diana-Verlag, Stuttgart). Salingers Knabenheld, sein Jünglings-Ich, ist kein armer Junge, wenn man an die materiellen Güter denkt. Sein Vater ist ein wohlhabender Anwalt in New York, der Knabe ist auf einem guten College, ihm gehören die teueren Lederkoffer, auf die er stolz ist, er hat das Gerät für vielerlei Sport, er besitzt schöne Anzüge und, wie es scheint, viel zuviel Geld. Seine Haupteigenschaft ist die, dass er fortwährend deprimiert ist.

Das College relegiert ihn. Nicht wegen eines übermütigen Streiches, sondern wegen unzulänglicher Leistungen. Der Junge ist nicht dumm; er ist vielleicht klüger als seine Mitschüler, aber das Pen-
sum, der Lehrstoff langweilen und deprimieren ihn. Er fährt zurück nach New York. Aber er geht nicht in die elterliche Wohnung heim. Das geschieht nicht aus Furcht vor Strafe, die nicht einmal erwartet wird, sondern aus der Gewissheit, dass ihn auch die Eltern nur schrecklich deprimieren werden. Der Junge streift zwei Tage durch New York. Er besucht schmutzige Bars, ein schmutziges Hotel, und er begegnet schmutzigen Menschen. Aber sogar der Schmutz berührt ihn nicht. Er be-
rührt ihn so wenig, wie der Junge die Prostituierte anrührt, die ihm der schmutzige Liftboy des schmutzigen Hotels auf das schmutzige Zimmer schickt. Es deprimiert ihn nur. Neben der Welt des Schmutzes gibt es die Region der Kälte. Zu ihr gehören die Eltern des Jungen, seine Verwand-
ten, die Mädchen aus seiner Gesellschaftsschicht. Er ruft eines dieser Mädchen an und trifft sich mit ihm. Dem Alter nach ist sie ein Kind, dem Wesen nach eine eingebildete Gans aus der Society-Rubrik der Zeitungen. So empfindet der Junge nur Zuneigung zu Phoebe, seiner kleinen Schwe-
ster. In der Nacht schleicht er sich heimlich wie ein Dieb in die Wohnung, besucht die kleine Phoe-
be und sitzt an ihrem Bett. Das ist eine zärtliche Stelle in dem düsteren Buch. Phoebe will mit dem Bruder fliehen, will mit ihm in die Holzfällerwälder gehen; doch erstens hat der Junge das nur so gesagt, dass er dahin will – er will ja gar nicht, denn auch die Wälder würden ihn deprimieren, und zweitens würde Phoebe, käme sie mit, des Einsamen Traum von der gewollten Einsamkeit zerstö-
ren: er möchte in einer Waldhütte leben und sich für taubstumm ausgeben, um nicht angespro-
chen zu werden und nicht antworten zu müssen.

Salinger erzählt diese Geschichte in einer saloppen Alltagssprache mit vielen stehenden Redewen-
dungen und festen Flüchen. Man kann nach der Übersetzung schwer urteilen, wie weit die Primiti-
vität dieser Sprache Armut, wie sehr sie Stil ist. Die Empfindungen der Einsamkeit, der Kälte, der Verlassenheit, die Gefühle des Deprimierten gelingen dem Autor, und er vermittelt sie dem Leser. Ob man aber New York nicht auch ein wenig Licht hätte geben können, einen Funken Versöhnung des Menschen mit der von ihm gestalteten Welt?

So also war die Jugend des reichen Jungen in New York trauriger als die des armen in Giesing. Sollte der Reiche auch schon aus dem Paradies der Kindheit vertrieben sein?

Wolfgang Koeppen


Die Zeit 4 vom 28. Januar 1954.

Überraschung

Jahr: 1954
Bereich: Kunst/Kultur

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