Materialien 1955
Die Rädelsführerorientierung der Polizei und die Angst vor der „akuten Masse“
Ähnlich starr wie das Versammlungsgesetz war die gesamte polizeiliche Ausbildungstradition der 1950er und 1960er Jahre. Taktisch richtete sie sich auf die Ergreifung von Rädelsführern. Das Vor-
gehen sah folgendermaßen aus:
„Zur Festnahme eines Leithammels (sic) ist ein Greifkommando bereitzuhalten, das nicht zu schwach sein darf … Es ist eine Gasse zu bilden als kürzeste Verbindungslinie zum Aufwiegler. Durch diese Gasse ist das eigentliche Greifkommando (mindestens drei Mann) anzusetzen. Das ganze Untenehmen muss schlagartig durchgeführt werden, weil jedes Zögern infolge der Wach-
samkeit des Leithammels zum Misserfolg führt.“1
Bereits der selbstverständliche Rückgriff auf die Tierwelt (Leithammel) deutet darauf hin, dass eine Menschenmenge tendenziell mit einer Tierherde gleichgesetzt wurde. Die Polizei war daher aufgrund taktischer Prägungen derart in ihrer Wahrnehmung befangen, dass der Tatbestand der Rädelsführerschaft kaum mehr an der Realität orientiert war. Er geriet zu einer verselbständigten Konstruktion. Um den vermuteten Rädelsführern Herr zu werden, wurden sogenannte „Greif-
trupps“ eingesetzt, die sich auf diese Personengruppe konzentrieren und sie herausgreifen sollten. Nicht mehr die uniformierte Polizei wurde in der vorderen Reihe eingesetzt, sondern zivile Ein-
satzkräfte.2 Aus polizeilicher Sicht war es nicht wichtig, was verantwortlich für Proteste war, sondern wer.3
In der Polizeifachliteratur wurde über „vermassende Menschen“4 geschrieben. Es musste der Ein-
druck von geradezu entmenschlichten Teilnehmern entstehen, die, Tieren gleich, nicht mehr den-
ken konnten und sich willenlos der Menschenmenge anpassten. Anleihen bei Gustave Le Bon wa-
ren nicht zu übersehen. Des Weiteren wurde der Begriff der akuten Masse verwendet. Diese han-
delte nach der Definition irrational und war „des Einsichtvermögens beraubt“.5 Hierunter wurde eine „größere Menschenmenge“ verstanden, „die durch ein Ereignis oder einen Umstand erregt ist und sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort befindet.“6 In dieser Situation sei die Erregung fast immer aggressiv und kriminelle Übergriffe aus der Massensituation heraus zu erwarten.7 Durch „eine wohldurchdachte Präventivtätigkeit“ sollte die Entstehung von „Massenpsychosen“ vermie-
den werden. Dieser Präventivtätigkeit lag die Verhinderung „von Mengen und Massen an neural-
gischen Punkten“ zu Grunde.8 In die Überlegungen flossen auch Aspekte ein, die vor dem Hinter-
grund des Kalten Krieges beschrieben wurden. Hierzu gehörte die Sorge vor kommunistischen Unterwanderungspraktiken.9
Die Furcht vor einer unkontrollierbaren Massenhysterie erhöhte bei der Polizei den Eindruck, ge-
mäß der Rädelsführerfixierung und dem Bestreben, es zu keiner gefährlichen Massensituation kommen zu lassen, schnell einzugreifen und Versammlungen auch überhart aufzulösen.
:::
1 F. Quentin/Fritz Stiebitz, Polizei und akute Masse, in: Sonderbeilage der Zeitschrift „Die Polizei – Polizei-Praxis“, September 1955, 2 f., zitiert bei: Heinz Steinert, Sozialstrukturelle Bedingungen des „linken Terrorismus“ der 70er Jahre. Aufgrund eines Vergleichs der Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland, in Italien, Frankreich und den Niederlanden, in: Bundesminister des Innern (Hg.), Protest und Reaktion, Opladen 1984, 454.
2 So der Berliner Polizeipräsident vor dem späteren Untersuchungsausschuss zum 2. Juni 1967, zitiert in: Peter Damerow, Peter Furth, Odo von Greiff, Maria Jordan, Eberhard Schulz, Der nicht erklärte Notstand, in: Kursbuch 12/1968 (Hg.: Hans Magnus siehe Enzensberger). Frankfurt/Main 1968, 23; hierzu auch Robert Pulver, Erkenntnisse aus der Jugendbanden-Bekämpfung in Bremen, in: „Die Polizei“ 55/1964, 44.
3 Rodney Stark, Police Riots. Collective Violence and Law Enforcement, Belmont, California 1972, 146.
4 Helmut Reininghaus/Fritz Stiebitz, Inhalt und Methodik der Ausbildung vor dem Einsatz gegen „Akute Massen“. Die polizeiliche Lage – Beilage der Zeitschrift Die Polizei 1/1967, 42.
5 Heinrich Hesse. Erfahrungen im Großen Sicherheits- und Ordnungsdienst bei Fußball-Großveranstaltungen, in: Die Polizei 54/1963, 272.
6 Rolf Umbach. Das Bild von der akuten Masse, in: Die Polizei 56/1965, 110.
7 A.a.O.
8 Fritz Stiebitz, Die psychologische Situation im Sportstadion, in: Die Polizei 54/1963, 261.
9 Ders., Polizei und epidemische Psychosen, in: Die Polizei 52/1961, 48.
Heiko Drescher, Genese und Hintergründe der Demonstrationsstrafrechtsreform von 1970 unter Berücksichtigung des geschichtlichen Wandels der Demonstrationsformen, Phil. Diss., Düsseldorf 2005, 55 ff.