Materialien 1955
Obolus zum Oktoberfest
Münchner SPD-Leute in eine Serie von Skandalen verwickelt
In Bayern regierte von 1954 bis 1957 eine Koalition unter Ausschluss der CSU. In der Stadt München war die SPD so stark geworden, dass eine Wiederwahl von Thomas Wimmer außer Zweifel stand. Da die Bundesrepublik am 5. Mai 1955 souverän geworden war, konnten sich die Besatzungsbehörden kaum mehr in innere Angelegenheiten einmischen. Gute Voraussetzungen für die Ausbreitung von „rotem Filz“ in der Landeshauptstadt.
Mit wachsendem Unbehagen verfolgte die Münchner Bevölkerung im Herbst 1955 ein Politspektakel in Fortsetzungen, in dem ausschließlich Kommunalbeamte und Politiker mit SPD-Parteibuch tragende Rollen spielten. Erst musste der städtische Oberrechtsrat Hans Seiss in Urlaub gehen, weil er unter anderem im Schreibtisch des Polizeipräsidenten herumgeschnüffelt und missgünstige Berichte über höhere Beamte verfasst hatte. Dann wurde dem Stadtdirektor Rudolf Bössl von den anderen Parteien und der Presse – allerdings vergeblich – der Rücktritt empfohlen, weil er sich wie ein kleiner Machiavelli aufgespielt hatte. Und nun passierte dem Wirtschaftsreferenten Karl Eckhardt das Malheur, dass ihn seine eigenen Sozialdemokraten aufforderten, ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst zu beantragen. Dass Fall Nr. 3 ausgerechnet im Dunstkreis des Oktoberfestes spielte, machte ihn nicht minder peinlich. Stadtrat Eckhardt war seit vielen Jahren „Wiesn-Referent“. Ihm oblag es, die Konzessionen an Festwirte und Schausteller zu vergeben, die wirtschaftlichen Belange der Stadt beim „größten Volksfest Europas“ wahrzunehmen und dabei für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen.
Der brave Mann widmete sich dieser Aufgabe mit solcher Inbrunst, dass er regelmäßig vor Beginn der Festivitäten einige Pfunde abnahm. Da seine Fürsorge einem allerorts beliebten Gaudium galt, lag kein ernsthafter Grund vor, seine Redlichkeit in Zweifel zu ziehen. Von irgendwelchen Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit dem Oktoberfest hatte die Bevölkerung jedenfalls nie etwas vernommen.
Umso bestürzter reagierte die Öffentlichkeit, als sie jetzt erfuhr, dass gegen den „Wiesn-Gewaltigen“ schon seit geraumer Zeit sehr ernsthafte Beschuldigungen vorlagen und auch schon, streng geheim, im Rathaus besprochen wurden. Sie besagten, dass Stadtrat Karl Eckhardt seit 1949 ziemlich regelmäßig an Weihnachten Geld, Gänse und Wein von Wiesnwirten als Geschenke angenommen hat. Außerdem wurden ihm gewisse verwandtschaftliche Interessen nachgesagt. So soll er als siebte Bierhalle das Hofbräuzelt zugelassen haben, dessen Pächterin die Schwiegermutter seines Sohnes war, der wiederum selbst beteiligt war, während sein Schwiegervater eine Hühnerbraterei beträchtlich erweitern konnte.
Die Geschenke gab Eckhardt unumwunden zu. Er wollte die milden Gaben jedoch an seine Angestellten weitergegeben haben, um ihnen eine Weihnachtsfreude zu machen. Von Bestechung könne deshalb nicht die Rede sein. „Aus sozialen Gründen habe ich mein Herz, nicht aber meinen Verstand sprechen lassen“, rechtfertigte er sich gegen die Vorwürfe. Allerdings war den also beschenkten städtischen Dienstkräften bis dato nicht bekannt, woher das Geld und die anderen schönen Sachen stammten. Sie hatten das alles in dem guten Glauben angenommen, dass ihr Chef es aus seiner Aufwandsentschädigung spendiert hätte.
Der Fall belastete nicht zuletzt den SPD-Oberbürgermeister Thomas Wimmer. Man fragte sich, ob dieser bei so viel „Filz“ in seiner Partei seine Popularität und seinen sprichwörtlichen Ruf als der rechtschaffenste aller Stadtväter über die bevorstehenden kommunalpolitischen Auseinandersetzungen hinweg retten konnte. Er konnte: Bei der Gemeindewahl im März 1956 bekam er 58,3 Prozent der Stimmen. Und der Wiesn-Referent Eckhardt kam ungeschoren davon und verhieß für 1956 ein sauberes Oktoberfest: Die zuständigen Behörden würden ein aufmerksames Auge auf die Preise haben und die Polizei werde hart gegen Störenfriede und Radaumacher vorgehen.
Karl Stankiewitz, Weißblaues Schwarzbuch. Skandale, Schandtaten und Affären, die Bayern erregten, München 2019, 126 ff.