Materialien 1958
Erinnerungsort: Lichthof der LMU
„Die Halle, welche den alten mit dem neuen Bau verbindet, gehört wohl mit zu den feinsinnigsten monumentalen architektonischen Schöpfungen Neu-Münchens.“ Diese ästhetisierende Betrachtung des 1905 bis 1909 errichteten „Lichthofs“ der LMU in einem München-Führer von 1925 wird durch spätere Ereignisse verdrängt: Auch wenn nur eine kleine, seitlich angebrachte Relief-Stele an sie erinnert – mit der großen Kuppelhalle verbinden sich entschiedener als Zerstörung (1944) und Wiederaufbau (bis 1957) die Flugblattaktionen der Weißen Rose. Die meisten Studenten übersehen das Relief, das, ebenso wie die gereihten Namen, ohne Kontext auskommen muss. Erst die vor fünf Jahren im Souterrain unter dem Audimax eröffnete „Denkstätte Weiße Rose“ ergänzt die Halle zu einem informierenden, inhaltlich definierten Erinnerungsort.
Im Ensemble der Zeichen und Inschriften des großen Kuppelbaus regen drei zur Frage an: Wie gegenwärtig ist Geschichte in einem Zentrum historischer Reflexion wie der Universität? Wie entspricht man dem Motto, unter das Rektor Joseph Pascher die Lichthof-Orgel am Weiße Rose-Gedenktag 1961 stellte: „Der Ort der Tat ist mit dem Stempel ihres Geistes für immer geprägt“? Was erinnert am „Ort der Tat“ an die Tat, welches Programm verbindet Tafeln, Texte und ihre Situation? Drei Inschriften sollen auf ihre Wirkung hin befragt werden.
Wie der anfangs zitierte München-Führer feststellt – „Der Geist der alma mater monacensis ist lateinisch“ – sind alle drei Inschriften in Latein abgefasst. Die erste Inschrift erinnert an die Weiße Rose; sie ist in Stein geschnitten und findet sich im 2. Stock der nördlichen Lichthof-Galerie. Die Namen der sieben hingerichteten Weiße Rose-Mitglieder rahmt ein Seneca-Zitat. Im Informationsbändchen, das ab 1980 der offiziellen Erinnerung diente, findet sich die Übersetzung: „Menschlichkeit im Herzen, sind eines unmenschlichen, gewaltsamen Todes gestorben: Willi Graf, Kurt Huber, Hans Leipelt, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Hans Scholl, Sophie Scholl. So bewährt sich jene Gesinnung, die wahr ist und niemals dem Urteil anderer unterworfen sein will.“
Diese schon 1946 geschaffene, nur als „Provisorium“ gedachte Platte befand sich zunächst gegenüber dem Eingang zur großen Aula: Wer diesen zeitweiligen Versammlungsort von Landtag und Senat verließ – heute sind das während der Semester viele hundert Leute täglich – stand vor der dank Seitenlicht viel besser leserlichen Tafel; am jetzigen Ort vor Raum 315, wo Professor Kurt Huber lehrte und von wo die Scholls ihre Flugblätter hinab warfen, ist sie so gut wie unlesbar. Ein frühestes Zeichen des seltenen akademischen Widerstands spiegelt so auch eine gewisse Verlegenheit heute angemessener Erinnerung. Die spätere Relief-Stele und ein oft übergangenes Bodendenkmal im Trottoir vor dem Haupteingang traten an die Stelle des „Provisoriums“, das nur noch Wissende aufsuchen.
Der entwaffnete Speerträger
Sehr viel prominenter und markanter als an die Weiße Rose erinnert im Lichthof eine zweite Steinplatte an die Kriegsgefallenen der LMU. Wer vom Haupteingang die Treppe zum ersten Stock hinaufgeht, erblickt nach halber Geschosshöhe auf dem Treppenabsatz links über sich klar lesbar das Gedenken an die Toten dreier Kriege (1870/71; 1914 – 18 und 1939 – 45). Die 1959 unter dem Rektorat Professor Joseph Paschers angebrachte Tafel ersetzt ein früheres Kriegerdenkmal mit bedeutender eigener Tradition. In der ehemals so genannten „Ehrenhalle“ des 1. Stocks, die den langen Gang des alten Universitätsgebäudes zum Lichthof öffnet, waren links und rechts von der Nachbildung des „Doryphoros“ (Speerträger) Register der Gefallenen angebracht. Dazu priesen zwei griechische Verse im Sockel der antiken Jünglingsstatue vergangene und zukünftige Kämpfe. Vom 18. Januar 1922, dem Jahrestag des 1918 untergegangenen deutschen Kaiserreichs, bis zum Bombenangriff 1944 war dies das Gefallenenmal der LMU. Beim Wiederaufbau wollte man nur bedingt an das vom Krieg zerstörte Kriegerdenkmal anschließen. Die Idee, den Doryphoros durch einen knieenden Jüngling zu ersetzen, wurde jedoch vom Senat zugunsten des restaurierten Speerträgers verworfen: Ohne Speer und Inschriften, in jeder Hinsicht entwaffnet, wirkt er ein wenig verloren zwischen leeren Seitenwänden. Die heute pauschale Erinnerung für alle Kriegstoten besetzt den Platz der Tafel für die Gefallenen aus dem 1870/71er Krieg. Sie geriet mit dieser Anbringung in eine – je nach Perspektive – anregende oder empörende Spannung zu der dritten, für den Erinnerungsort bedeutsamen Inschrift des Lichthofs.
Diese Inschrift befand sich über dem gegenwärtigen Kriegermahnmal im so genannten Adlergitter, einem der sechs in die Mauerdurchbrüche der Lichthof-Eckpfeiler auf Höhe des ersten Stocks gesetzten, handgeschmiedeten Ornamentgitter mit Tiersymbolen. Alle tragen vergoldete klassische Zitate, die 1957 beim Wiederaufbau reinstalliert wurden: Im Adlergitter stand das Horaz-Zitat „Dulce et decorum est pro patria mori“ (Es ist süß und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben).
Heute sucht man den Preis des „süßen“ Sterbens vergeblich. Denn unmittelbar nachdem das Horaz-Zitat wieder angebracht war, regten sich Proteste. Das Universitätsarchiv bewahrt viele Einsprüche auf, die keineswegs nur von Studenten stammen, wie manche Berichte vermelden. Der erste Einwand kam von dem „tief erschrockenen“ Physiker Professor Walther Gerlach, der nach Kriegsende drei Jahre lang Rektor der LMU war. Nach ihm protestierten andere Professoren und Assistenten, von vielen studentischen Unterschriften begleitet. Der damalige Rektor, der Chemiker Egon Wiberg, griff die Einsprüche auf, und der Senat rief Studenten und Professoren zu Vorschlägen für einen Ersatztext auf: Der sollte ein „Ideal, für das sich einzusetzen lohnt“, formulieren. Bundesweit berichtete die Presse. Akademischer Protest war in Zeiten wieder eingeführter Wehrpflicht eine Sensation. Insgesamt kamen mehr als 200 Antworten, aber nur wenige von den ursprünglichen Adressaten.
Streit um Horaz
Der Münchner Interkorporative Konvent, Dachverband der Verbindungen, plädierte Seit an Seit mit dem „Stahlhelm“ (Traditionsgemeinschaft und Bund der Frontsoldaten von 1918) für die Wiedereinsetzung des Horaz; die Frontsoldaten drohten Magnifizenz als „deutschem Mann“ an, bei Wegfall des Zitats werde ein Tag kommen, „wo diese Angelegenheit beglichen werden wird“. Weil der Kalte Krieg loderte, unterstellte man Horaz-Gegnern „sowjetzonalen Einfluss“ und erklärte die Studenten zum „Werkzeug“ des Ostens. Auch die Vollversammlung am 30. Januar 1958, die wegen Ansturms aus der Aula ins Audimax übertragen werden musste, stand unter diesem Zeichen. Drei Viertel der mehr als 3000 Studierenden stimmten nach langer Diskussion gegen, die katholischen farbentragenden und nicht farbentragenden Verbindungen laut Pressberichten für das „Dulce“. Einen einprägsamen Höhepunkt der Debatte ergab die Bitte eines ungarischen Exil-Studenten, man möge ihm den alten Text für seine 1956 beim Budapester Aufstand gefallenen Kollegen überlassen.
„Horaz hat verloren“ titelte die FAZ. Als Ersatz erwog Rektor Wiberg ein an die Weiße Rose erinnerndes Motto: „mortui viventes obligant“ (Die Toten verpflichten die Lebenden), das jedoch andere Gruppen für sich beanspruchten. Den zugrunde liegenden Gedanken schmiedete der damalige Privatdozent und spätere Salzburger Ordinarius der klassischen Philologie, Georg Pfligersdorffer, in den heute vorfindbaren Satz um: „Mortuorum virtute tenemur“ (in des Verfassers Übersetzung: „Durch die hohe Bewährung der Toten sind wir gehalten“). Eindrucksvoll bestätigt diesen Text ein Brief des Ulmer Oberbürgermeisters i.R. Robert Scholl, der am 1. Februar 1958 an den Rektor schrieb: „Ich möchte Ihnen, ganz im Sinne meiner toten Kinder, danken“ – das nachträglicheingefügte Adjektiv meint außer Sophie und Hans auch deren vermissten Bruder Werner Scholl.
Schwieriges Gedenken
Die Entscheidung der Universität gegen das „süße“ Sterben und für das Gedenken an die Hingerichteten vollzog nach, was europäische Literatur seit dem Ersten Weltkrieg formuliert hatte; daher erscheint heute die Diskussion fast anachronistisch. Überboten wird dieser Anachronismus allerdings dadurch, dass die erwähnte zweite Inschrift, aufs Jahr 1959 datiert, genau unter die Stelle des 1958 verbannten Loblieds auf den Soldatentod gesetzt wurde und dem Sinn des Ersatztextes widerspricht. Die gut lesbare Tafel beschwört ein anonymes Todesgeschick (mortuis fato oppressis) und entlastet so Hitlers Heeresleitung. Die Negation des „non in vanum“ (des nicht vergeblichen Todes) behauptet eine dem Adlergitter konträre Sinngebung: Es wird nicht der Opfer gedacht, die – wie Sophie Scholl forderte – gegen den NS-Staat starben, sondern die räumliche Anordnung verpflichtet die Leser auf die „Tugend, Bewährung“ (virtute) auch derjenigen Toten, die für Kaiser, Reich und Führer starben. Die einzig ausformulierte und lesbare Erinnerung an historische Vorgänge widerlegt das Gedenken des Adlergitter-Zitats.
Archivalien zur Anbringung und zu dem wieder von Georg Pfligersdorffer formulierten Text fehlen. Lediglich ein Senats-Protokoll vermerkt, dass gegen die „Inschrift auf der Gedenktafel für die Gefallenen (…) einige studentische Gruppen Einspruch eingelegt (haben). Der Senat lehnt es ab, den Wortlaut der Gedenktafel zu ändern“. Der Einspruch wurde mehrfach wiederholt, zuletzt 2001, als bei einer Verbindung NPD-Schläger Unterschlupf fanden. Dass eine Sinngebung des Krieges nicht nur den 1958 von der LMU getragenen Protest, sondern auch die mit dem neuen Adlergitter verbundene Erinnerung an den Widerstand überlagert, bleibt ein Stein des Anstoßes.
Ich danke Prof. G. Pfligersdorffer, Prof. W. Suerbaum und dem Universitätsarchiv München für ihre Unterstützung. Literatur: Irene Söllner, Spuren der Antike im Hauptgebäude der Ludwig-Maximilians-Universität München. Staatsexamensarbeit für das Lehramt an Gymnasien 1988. Kathrin Hoffmann-Curtius, Der Doryphoros als Kommilitone. Antikenrezeption in München nach der Räterepublik. In: Humanistische Bildung 8. Der Mensch in Grenzsituationen. Ostfildern 1984. S. 73 – 138.
Ulrich Dittmann
Institut für Deutsche Philologie, Ludwig-Maximilians-Universität München
MünchnerUni Magazin. Zeitschrift der Ludwig-Maximilians-Universität München 3/2002, 28 f.