Materialien 1958
Verbrennt mich!
Ein Protest von Oskar Maria Graf
Wie fast alle links gerichteten, entschieden sozialistischen Geistigen in Deutschland, habe auch ich etliche Segnungen des neuen Regimes zu spüren bekommen: Während meiner zufälligen Abwesen-
heit aus München erschien die Polizei in meiner dortigen Wohnung, um mich zu verhaften. Sie be-
schlagnahmte einen großen Teil unwiederbringlicher Manuskripte, mühsam zusammengetragenes Quellenstudienmaterial, meine sämtlichen Geschäftspapiere und einen großen Teil meiner Bücher. Das alles harrt nun der wahrscheinlichen Verbrennung. Ich habe also mein Heim, meine Arbeit und – was vielleicht am schlimmsten ist – die heimatliche Erde verlassen müssen, um dem Kon-
zentrationslager zu entgehen.
Die schönste Überraschung aber ist mir erst jetzt zuteil geworden: Laut „Berliner Börsenkurier“ stehe ich auf der weißen Autorenliste des neuen Deutschland und alle meine Bücher, mit Ausnah-
me meines Hauptwerkes „Wir sind Gefangene“, werden empfohlen! Ich bin also dazu berufen, einer der Exponenten des „neuen“ deutschen Geistes zu sein!
Vergebens frage ich mich, womit ich diese Schmach verdient habe.
Das dritte Reich hat fast das ganze deutsche Schrifttum von Bedeutung ausgestoßen, hat sich los-
gesagt von der wirklichen deutschen Dichtung, hat die größte Zahl ihrer wesentlichsten Schrift-
steller ins Exil gejagt und das Erscheinen ihrer Werke in Deutschland unmöglich gemacht. Die Ahnungslosigkeit einiger wichtigtuerischer Konjunkturschreiber und der hemmungslose Vanda-
lismus der augenblicklich herrschenden Gewalthaber versuchen all das, was von unserer Dichtung und Kunst Weltgeltung hat, auszurotten, und den Begriff „deutsch“ durch engstirnigsten Nationa-
lismus zu ersetzen. Ein Nationalismus, auf dessen Eingebung selbst die geringste freiheitliche Re-
gung unterdrückt wird, ein Nationalismus, auf dessen Befehl alle meine aufrechten sozialistischen Genossen verfolgt, eingekerkert, gefoltert, ermordet oder aus Verzweiflung in den Freitod getrie-
ben werden!
Und die Vertreter dieses barbarischen Nationalismus, der mit Deutschsein nichts, aber auch schon gar nichts zu tun hat, unterstehen sich, mich als einen ihrer „Geistigen“ zu beanspruchen, mich auf ihre sogenannte weiße Liste zu setzen, die vor dem Weltgewissen nur eine schwarze Liste sein kann!
Diese Unehre habe ich nicht verdient!
Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbanden gelangen!
Verbrennt die Werke des deutschen Geistes! Er selber wird unauslöschlich sein, wie eure Schmach!
(Alle anständigen Zeitungen werden um Abdruck dieses Briefes ersucht. Oskar Maria Graf.)
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Unter Vorzensur. Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs. Er-
scheint täglich um 6 Uhr morgens, Montag um 1 Uhr mittags. Nr. 130. Wien. Freitag, 12. Mai 1933. 46. Jahrgang.
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Nachschrift zu diesem Protest 1960
Der Inhalt dieses Protestes, der nach dem 10. Mai 1933 in der Presse der ganzen Welt erschien, berichtet über die Fakten, die dazu Anlass gaben. Die Folge davon war, dass die Münchner Stu-
denten im Beisein der Professorenschaft meine Bücher in der Aula der Münchner Universität verbrannten. Im Juni des gleichen Jahres wurde ich von der Hitlerregierung „aus dem deutschen Reich ausgebürgert“ und lebte 25 Jahre lang als passloser Emigrant und Staatenloser in den Län-
dern meines Exils. Erst im März 1958 erhielt ich die USA-Bürgerschaft.
Heutzutage, da fast jeder Mensch davon überzeugt ist, dass in den letzten Jahrzehnten alle Politik Bankrott gemacht hat, empfindet man sicherlich Bezeichnungen wie „entschieden sozialistisch“ oder „sozialistische Genossen“ als längst überholte, inhaltlose Phrasen, oder man versteht darunter etwas politisch höchst Anrüchiges, das man, schon rein aus Gründen des privaten Fortkommens, energisch ablehnt. Bei einer Gesellschaft, welche mit aller Hartnäckigkeit bemüht ist, die durch barbarische Diktaturen erzeugte Entmenschlichung unseres gesamten Lebens hinzunehmen oder zu vergessen, ist das weiter nicht verwunderlich. Eine solche Gesellschaft gebärdet sich, je nach dem Machtbereich, in welchem sie sich befindet, konformistisch oder nonkonformistisch, was im Grunde auf das gleiche hinausläuft. Keiner nämlich glaubt mehr an das, was er sich vormacht, und passt sich der jeweiligen Situation an. Dazu kommt nunmehr seine dauernde Angst vor dem uner-
warteten Atomtod, die ihn gänzlich zukunftslos gemacht hat, so dass er sich nur noch dem leeren Sichgehenlassen und der hektischen Jagd nach dem ablenkenden Augenblick ergibt, weil ihm alles andere unwichtig und sinnlos erscheint. In diesem Zustand fällt es ihm um so leichter, sich jeder Selbstverantwortung zu entziehen.
Ich war nie Parteisozialist und habe mir nicht erst von marxistischen Schriftgelehrten sagen lassen müssen, was Sozialismus ist. Mir ist – um mit Gorki zu reden – „mein Sozialismus von Kind an auf den Rücken geprügelt worden“. Das hat mich – nicht etwa aus einem inneren Wagnis, sondern gleichsam instinktiv und zwangsläufig – zum Rebellen gemacht, über dessen Wesen ich mir längst vor Camus Klarheit verschafft habe. Der Rebell bedarf keiner sozusagen moralischen Zurede von anderer Seite, er handelt nicht nach dem Rezept einer politischen Überzeugung, die ihm von ir-
gendwelchen politischen Ideologen oktroyiert worden ist, sondern einzig und allein aus einer grundmenschlichen Empörung gegen jeden Missbrauch der Schwächeren durch die Stärkeren, aus der erlittenen Einsicht, dass Unrecht und Unmenschlichkeit, niederträchtiger Massenbetrug und chauvinistische Völkerverhetzung gemeine Verbrechen asozialer Machthaber sind. Das macht ihn zum Sozialisten, denn kein Mensch kann schließlich allein und für sich wirken, und bei allem pro-
vokativen Einzelgängertum, das ihn kennzeichnet, wird die Grundhaltung des Rebellen doch von dem unzerstörbaren Glauben an die Solidarität der Gleichen bestimmt. Mehr als für jeden anderen Menschen besteht für ihn die unabweisbare Verpflichtung, zu jeder Zeit und mit allen seinen Kräf-
ten dafür einzustehen und zu kämpfen, was im Grunde genommen alle wahrhaft sozialistischen Parteien erringen wollen: eine Gesellschaftsordnung, in welcher der einzelne und die Völker das gleiche Recht erhalten, in Freiheit und Frieden am Aufbau einer glücklichen Welt mitzuwirken. Danach habe ich stets zu handeln versucht, und jeder, der dafür kämpfte – ganz gleich, ob er sich nun Kommunist, freier Sozialist oder Sozialdemokrat nannte -, war und ist für mich ein „Genosse“. Dafür haben viele meiner Freunde, und nicht nur Arbeiter, sondern Geistige, gläubige Christen und Priester, die Folterungen in den Konzentrationslagern oder den Märtyrertod erlitten. Dies je zu vergessen, hielte ich für einen schamlosen Verrat.
Zitiert in: Hans Dollinger, Das Oskar Maria Graf Lesebuch, München 1993, 84 ff.