Materialien 1958

Manifest

1.
Es gibt heute eine zukunftsträchtige, künstlerische Aufrüstung im Gegensatz zur moralischen Auf-
rüstung1. Europa steht vor einer großen Revolution, vor einem einzigartigen kulturellen Putsch.

2.
Die Kunst ist die letzte Domäne der Freiheit und wird sie mit allen Mitteln verteidigen.

3.
Wir wagen es, unsere Stimme gegen den ungeheuren Koloss des technisierten Apparates zu erhe-
ben. Wir sind gegen das folgerichtige Denken, das zur kulturellen Verödung geführt hat. Das automatische funktionelle Denken hat zur sturen Gedankenlosigkeit geführt, zum Akademismus, zur Atombombe.

4.
Die Erneuerung der Welt, jenseits von Demokratie und Kommunismus, kommt nur durch die Er-
neuerung des Individualismus, nicht durch das kollektive Denken.

5.
Wer Kultur schaffen will, muss Kultur zerstören.

6.
Begriffe wie: Kultur, Wahrheit, Ewigkeit interessieren uns Künstler nicht, wir müssen unser Leben fristen. Die materielle und geistige Situation der Kunst ist so trostlos, dass man von den Malern nicht verlangen kann, dass sie verbindlich malen. Verbindlich malen sollen die Arrivierten.

7.
Grundlagenforschung ist rein wissenschaftlich und angewandte Forschung ist rein technisch. Die künstlerische Forschung ist frei und hat mit Wissenschaft und Technik nichts zu tun. Wir sind da-
gegen, dass man heute die Kunst verwissenschaftlichen will und sie zu einem Instrument der tech-
nischen Verblödung machen will. Kunst beruht auf einem Instinkt, auf den schöpferischen Urkräf-
ten. Diese wilden ungebundenen Kräfte drängen zum Ärger aller intellektuellen Spekulanten stets zu neuen unerwarteten Formen.

8.
Kunst ist ein dröhnender Gongschlag, sein Nachklang ist das Geschrei der Epigonen, das im leeren Raum verhallt. Die Übertragung ins Technische tötet die künstlerische Potenz.

9.
Kunst hat mit Wahrheit nichts zu tun. Das Wahre liegt zwischen den Dingen. Wer objektiv sein will, ist einseitig, wer einseitig ist, ist pedantisch und langweilig.

10.
Wir sind umfassend.

11.
Es ist alles vorbei, die müde Generation, die zornige. Jetzt ist die kitschige Generation an der Rei-
he. WIR FORDERN DEN KITSCH, DEN DRECK, DEN URSCHLAMM, DIE WÜSTE. Die Kunst ist der Misthaufen, auf dem der Kitsch wächst. Kitsch ist die Tochter der Kunst, die Tochter ist jung und duftet, die Mutter ist ein uraltes stinkendes Weib. Wir wollen nur eins: Den Kitsch verbreiten.

12.
Wir fordern den IRRTUM. Die Konstruktivisten2 und die Kommunisten haben den Irrtum abge-
schafft und leben in der ewigen Wahrheit. Wir sind gegen die Wahrheit, gegen das Glück, gegen die Zufriedenheit, gegen das gute Gewissen, gegen den fetten Bauch, gegen die HARMONIE. Der Irr-
tum ist die herrlichste Fähigkeit des Menschen! Wozu ist der Mensch da? Den vergangenen ihm nicht mehr gemäßen Irrtümern einen neuen Irrtum hinzuzufügen.

13.
Statt eines abstrakten Idealismus fordern wir einen ehrlichen Nihilismus. Die größten Verbrechen der Menschheit werden unter dem Namen Wahrheit, Ehrlichkeit, Fortschritt, bessere Zukunft be-
gangen.

14.
Die abstrakte Malerei ist leerer Ästhetizismus geworden, ein Tummelplatz für Denkfaule, die einen bequemen Vorwand suchen, längst vergangene Wahrheiten wiederzukäuen.

15.
Die abstrakte Malerei ist ein HUNDERTFACH ABGELUTSCHTER KAUGUMMI, der unter der Tischkante klebt. Heute versuchen die Konstruktivisten und die Strukturmaler, diesen längst ver-
dorrten Kaugummi noch einmal abzuschlecken.

16.
Durch die Abstraktion ist der vierdimensionale Raum selbstverständlich geworden. Die Malerei der Zukunft wird POLYDIMENSIONAL sein. Unendliche Dimensionen stehen uns bevor.

17.
Die Kunsthistoriker machen aus jeder notwendigen geistigen Revolution ein intellektuelles Tischgespräch. Wir werden der OBJEKTIVEN UNVERBINDLICHKEIT EINE MILITANTE DIKTATUR DES GEISTES ENTGEGENSETZEN.

18.
Wir können nichts dafür, dass wir gut malen. Wir bemühen uns auch noch in diesem Sinn. Wir sind arrogant und exzentrisch. Wir spotten jeder Beschreibung.

19.
WIR SIND DIE DRITTE TACHISTISCHE WELLE.3
WIR SIND DIE DRITTE DADAISTISCHE WELLE.4
WIR SIND DIE DRITTE FUTURISTISCHE WELLE.5
WIR SIND DIE DRITTE SURREALISTISCHE WELLE.6

20.
WIR SIND DIE DRITTE WELLE. Wir sind ein Meer von Wellen (SITUATIONISMUS)7.

21.
Die Welt kann nur durch uns enttrümmert werden.
WIR SIND DIE MALER DER ZUKUNFT!

Gruppe Spur: H. Prem, H. P. Zimmer, E. Eisch, H. Sturm, L. Fischer, A. Jorn, D. Rempt, G. Britt, G. Stadler.


Manifest der Gruppe SPUR vom November 1958 in: Cobra, Spur, Wir, Geflecht, Kollektiv Her-
zogstraße
, Katalog zur Ausstellung, München 1985.

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1 Von Frank Nathan Daniel Buchman 1938 begründete christliche Erweckungsbewegung gegen Atheismus, Materialismus und Kommunismus mit dem Begegnungszentrum in Caux in der Schweiz seit 1948.

2 Konstruktivismus, von Naum Gabo und Antoine Pevsner begründete Richtung der abstrakten Kunst auf technisch-kon-
struktiver Grundlage mit Raum und Zeit als entscheidenden Faktoren.

3 Tachismus, ein abstrakter Expressionismus, der den seelischen Regungen durch Farbflecken unmittelbar Ausdruck gibt.

4 Dadaismus, von H. Ball, R. Huelsenbeck, H. Arp, T. Tzara 1916 in Zürich begründete Richtung, die alle konventionellen, bürgerlichen und idealistischen Kunstauffassungen ablehnt.

5 Futurismus, eine 1909 durch F.T. Marinetti ausgelöste politische, literarische und künstlerische Bewegung, die eine radi-
kale Erneuerung im Sinne der Moderne fordert.

6 Surrealismus, von A. Breton 1924 beförderte Gegenbewegung gegen den Realismus mit Bezug auf das psychisch Unbe-
wusste.

7 Situationismus, um R. Vaneigem Anfang der Fünfziger Jahre in Paris sich bildende radikal-anarchistische Kunstbewe-
gung.

Überraschung

Jahr: 1958
Bereich: Kunst/Kultur