Materialien 1959

Verwehte Spuren

„Kurt Schweicher versteht die Rolle des Negativen nicht, das er in der modernen Kunst nicht anerkennt. Er versteht nicht die tiefe Einfachheit all der Probleme, deren falsche Kompliziertheit er betrachtet, nicht besser versteht er die neue Totalität, die höhere Kompliziertheit …“ schrieb die Gruppe SPUR 1960 in der zweiten Nummer ihrer Zeitschrift als deutsches Organ der Situationistischen Internationalen.

Heute drücken diese Veteranen des situationistischen Experiments dieselbe Ratlosigkeit vor der tiefen Einfachheit aus wie alle die sie umgebenden Kulturpinsel und Medienredakteure. Bereitwillig lassen sie sich heimholen in die Heerscharen derjenigen, die unter der Obhut einer geschichtslosen Rückständigkeit den Konflikt der Aufhebung der Kunst als immer noch ungelösten, ewig um sich selbst kreisenden zu betrachten bereit sind, als hätte es seit dem Autonomwerden der Kunst als vom Leben getrenntem Bereich nie eine Lösung gegeben und als wäre dies ein Beweis, dass es auch nie eine Lösung geben könne. Mit ihrer ganzen Perspektivlosigkeit sind sie wieder da gelandet, wo der Fortschritt nur noch in Lasuren oder Farbabstufungen liegt, die nichts anderes ausdrücken als einen Stillstand im Detail: das vollendete Scheitern. Genau da, wo der Fortschritt in der Aufhebung der Kunst innerhalb der sozialen revolutionären Bewegung liegt, begann mit dem Ausschluss der Gruppe SPUR aus der SI 1962 ihr Rückzug. Genau hier wird auch heute die Geschichtsschreibung über diese Gruppe abgebrochen.

Die Ausstellung über die Gruppe SPUR des Galeristen van de Loo ist die Kumpanei zwischen Händler und Künstler zur Aufrechterhaltung ihres speziellen Gewerbes. Für den Händler, der in diesem besonderen Falle sich durchaus in der Avantgardekunst heimisch und sich als deren Förderer fühlte, der nebenbei gesagt, den Vorwurf seiner Korrumpiertätigkeit von Seiten der SI nie verschmerzt hat und es heute noch nötig hat, den gesamten damaligen Briefwechsel zwischen ihm und der SI im Ausstellungskatalog zu veröffentlichen, geht es um die Stabilisierung seiner Werte, die drohen, sich an seinen Wänden in nichts aufzulösen; für die Künstler ist diese Ausstellung die Stabilisierung ihres Rückstandes, das stolze Vorzeigen einer radikalen Vergangenheit aus der Stellung der Gescheiterten: das Ausmaß des Experiments, an dem sie sich beteiligten, schätzen sie — heute wie damals — geringer ein, als die Möglichkeiten, die in ihm tatsächlich lagen. Nach all den Skandalen, die sie — mehr oder weniger freiwillig — entfachten, darf nun endlich in aller Deutlichkeit gesagt werden, dass es ihnen nie um mehr ging als ihre Bilder und Skulpturen, ein radikales Verharren innerhalb der Kunst.

Freudig staunt die Medienöffentlichkeit über diese Experimente der Auflösungsbewegung der Kunst, auf die sie der aktuelle gesellschaftliche Niedergang zurückgreifen und sie der immer ärmer gewordenen Konvention als Ersatzwerte anbieten lässt. Die retrospektivische Strategie der verbrannten Erde wütet durch die verschiedenen Strömungen der jüngeren Vergangenheit von Dada bis Zero, die sie alle darin vereinen will, sie als Aufbesserung für die gegenwärtige Misere dienstbar zu machen. Ihre dümmliche Wertschätzung jeglicher aufspürbaren Radikalität gegenüber ist nur noch dazu da, die Tatsache zu verschleiern, dass an die in aller Breite gezeigten Positionen niemand mehr anknüpfen kann, weil die gesellschaftliche Entwicklung diese jeden Wertes beraubt hat. Die soziale Geschichte wird verschwiegen, damit das radikale Aufbegehren dort bleibt, wo es nach den Vorstellungen der Bourgeoisie hingehörte: in die Kunst, in die rein persönliche Haltung. Im Detail wird bewundert, was global gefürchtet wird.

Die SI, die 1958 die Tradition des Endes der Kunst zugunsten der Revolutionierung des alltäglichen Lebens in kollektiver Form aufnahm, hat dem ewigen Problem der Trennung von Kunst, Politik und Leben praktisch die Endlösung gegeben. Als Bewegung der Totalität lieferte sie Theorie und Praxis der modernen Revolution und führte den Beweis, dass es nie mehr um Stilfragen gehen, vielmehr die individuelle Radikalität sich allein in der Revolutionierung des Sozialen verwirklichen kann. Der einzige menschliche Fortschritt liegt in der Behauptung der anti-gesellschaftlichen Totalität, deren Schlachtfeld untrennbar die gesamte anti-menschliche Organisation des Überlebens ist.

Genau diese einfache Antwort auf die falschen Kompliziertheiten wurde damals wie heute mit allen Mitteln zu verschweigen versucht. Der Klassenkampf von oben hat den Begriff der Revolution aus den Vorstellungswelten eliminiert, nachdem er ihn durch den Prozess der Quantifizierung entschärft hat. Ihre eigene Perspektivlosigkeit verbirgt diese Gesellschaft hinter der entschiedenen Verhinderung jeder ihr feindlich gesinnten Perspektive. Sie macht sich die zersetzte revolutionäre Perspektive zunutze, indem sie die isolierten radikalen Elemente an dieser Umkehrung teilhaben lässt. Es steht in der besonderen Verantwortung dieser radikal Gescheiterten, das zu verschweigen und zu verfälschen, was sie genau kennen, und somit auf die Seite der staatlichen Manipulateure überzulaufen.

Hans Platschek, selbst Mitglied der SI für zwar nur sehr kurze Zeit und ausgeschlossen, bevor die Gruppe SPUR 1959 aufgenommen wurde, leistet in einem Rundfunkessay über die Gruppe SPUR einen beispielhaften Beitrag zu dieser allgemeinen Verdummung. Nicht nur erwähnt er nicht mit einem Wort die Existenz einer SI oder den großen Einfluss, den diese — als Auflösung der Frage der radikalen Kunst — auf die Gruppe SPUR gehabt hat. Er schafft es weiter, die Frage selbst einer individuellen Radikalität auszumerzen zugunsten der Fragestellung wie „man gegen den Kunstbetrieb Protest einlegen“ könne. Niemand kann es mehr wundern, dass die beliebigen Seiten von Kunst und Politik dann belanglos getauscht werden können, wo Platschek die von der Gruppe SPUR aufgenommenen Fragen heute bei den Grünen diskutiert sieht. Es ist sein persönliches Glück wie das seiner ganzen Gattung, dass die Gruppe SPUR gescheitert ist, wie die Grünen — auch für ihn sichtbar – scheitern werden und sich die Brisanz einer revolutionären Perspektive im allgemeinen Scheitern immer wieder aufzulösen scheint.

Für ihn gab es kein anderes Feld der Veränderung außer den Wänden von Galeristen oder, die Lösung, die er vorgezogen hat, miteinzustimmen in das Untergangslied, das täglich mit verknöcherter Linkshaltung aus den progressiven Anstalten der Informationszentralen dröhnt.

Seine tautologische Resignation verändert die SPUR-Parole „Ohne Utopie bleibt die Welt ein Dreckhaufen“ dahingehend, dass „ohne Bilder die Welt der Dreckhaufen bleibt, der sie ist“.

Seiner aufgeweckteren Vergangenheit mag man es zu schreiben, dass er wohl ahnt, einer von den Dreckskerlen zu sein, die diesen Haufen immer weiter vergrößern. Er und all jene staatlichen Denker meinen übersehen zu können, dass trotz dieser gescheiterten und auf ewig zum Scheitern verurteilten Welt, die sie sich zurechtgezimmert haben, die Kraft des Negativen nicht aufgehört hat, an ihren furnierten Pressholzbrettern zu sägen. Das bereitwillige Abfinden mit dem Verzicht, das sie in ein kleines Stückchen ausgeborgter Macht eingetauscht haben, wird sich früher oder später gewaltsam als das zeigen, als das es sich nie ganz verbergen konnte: ihre individuelle Nichtigkeit inmitten eines gesellschaftlichen Niedergangs.

Mit seiner Strategie des Verschweigens, die ebenso zeitlos wie eindeutig ist, gibt Platschek noch einmal der Gruppe SPUR in ihren situationistischen Zeiten recht: „Um diejenigen, die eine allgemeine neue Aufwertung vorhaben, lassen die Kultur- und Informationskontrolleure keinen Skandal mehr aufwirbeln: sie neigen vielmehr dazu, das Stillschweigen dauerhaft zu organisieren“.


Revolte! Organ der Subrealisten, 26/27 – 1980, Hamburg, 12 ff.

Überraschung

Jahr: 1959
Bereich: Kunst/Kultur

Referenzen