Materialien 1959
Ringvorlesung am 18. Mai 1988
Provokation und Öffentlichkeit
Teilnehmer: Dieter Kunzelmann und Dirk Müller
Diskussionsleitung: Jochen Staadt
Jochen Staadt:
… Die Situationistische Internationale wurde 1957 als Künstlergruppe in Paris gegründet und hatte eine über Europa verstreute Mitgliedschaft, die nie weit über 100 Personen hinausging. Um so erstaunlicher ihre Bedeutung für kulturelle und politische Entwicklungen. Die Situationistische Internationale entwickelte sehr früh und sehr eindeutig eine grundlegende Kritik sowohl der gesellschaftlichen Entwicklung der westeuropäischen Länder nach 1945 als auch ihrer erklärten Antipoden, Ostblock und traditioneller Arbeiterbewegungen samt Theorievariationen des Marxismus. Sie verstand diese Kritik als revolutionär und zwar als revolutionär im Hinblick auf die funktionalen Abläufe in modernen Gesellschaften, die die Arbeits- und Lebenswelten prädisponieren. Dabei ist wichtig, dass die Situationistische Internationale mit ihrer Kritik des Funktionierens moderner Gesellschaften vorwiegend außerhalb des industriellen Produktionssektors ansetzte; das ging also von einer Kritik der Architektur, des Städtebaus, des Verkehrs, des Kunstmarktes, der Filmindustrie über eine Kritik der Freizeitindustrie bis hin zu Überlegungen über die Einübung von Rezeptionsgewohnheiten etc. Es ging ihr also vorwiegend um jene Bereiche, deren Umwälzung der traditionelle Marxismus nur am Rande thematisierte und in die Zeit nach der Revolution verschob. Die Situationisten wollten Veränderungsprozesse außerhalb des unmittelbaren industriellen Produktionsprozesses mit seinen Maschinenzwängen auslösen. Der spielerische Mensch (homo ludens) stand im Mittelpunkt situationistischen Denkens und es beinhaltete, da es eine Theorie von Bohemiens war, die Ablehnung der Arbeitsethik, die konstituierend für die Industriestaaten in 0st und West war und ist — eine Überlegung, die gerade jetzt wieder hochaktuell wird. Ihre Idee des spielerischen Lernens und Kommunizierens stand in denkbar tiefem Gegensatz zum Bild des fleißigen, ordentlichen, leistungsorientierten Menschen, wie es Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger Jahre als vorbildhaft galt, in den Schulen und Universitäten gelehrt, in den Zeitungen und als Norm verbreitet, in beschrieben wurde.
Interessant für die heutige Diskussion sind vor allem praktische Konsequenzen situationistischer Theorie, z.B. Überlegungen zur Störung funktionaler Abläufe wie: Veränderung von Verkehrsschildern, dass der Verkehr in die falsche Richtung ging, Einbahnstraßen in die falsche Richtung umzuleiten, Ampeln abzustellen etc. Die Idee dabei war, durch die Störung dieser funktionalen Abläufe könnte bewusst werden, dass diese funktionalen Abläufe einem inneren Zweck folgen, der nicht zwangsläufig ist, sondern der Ordnung der Gesellschaft im herrschenden Sinne dient und dass dazu Alternativen, andere Modelle denkbar sind: Die beispielsweise schon sehr früh entwickelte Vorstellung, Städtebau nicht als Verhinderung von Begegnung durch funktionale Verkehrsplanung zu organisieren, sondern den Verkehr als Begegnung zu begreifen, und z.B. die Autos aus der Stadt zu verbannen und die Städte um die Begegnung der Menschen herum zu bauen. Diese Situationistische Internationale — es gibt natürlich noch mehr dazu zu sagen — hatte auch also schon Begriffe, mit denen heute sehr aktuelle wieder gearbeitet wird, z.B. von Habermas. Guy de Bois, einer der wesentlichen Inspiratoren der Situationistischen Internationale, sprach damals von der Kolonisation des Alltags. Die Kolonisation des Alltags spielte eine Rolle in der Auseinandersetzung mit Strategien. Wie erfolgt diese Kolonisation des Alltags, d.h. die Werbung, die moderne Werbung, die Bewusstseinsindustrie war einer der wesentlichen Angriffspunkte Situationistischer Internationale, der Kritik aus der Situationistischen Internationale und der Folgegruppen. Eine der Gruppen, die Mitglied in der Situationistischen Internationale war seit 1959, war die Gruppe SPUR, Dieter Kunzelmann war Mitglied in der Gruppe SPUR.
Die Gruppe SPUR war eine Künstlergruppe in München, der Maler, aber nicht nur Maler angehörten, es hat inzwischen auch jetzt wieder entdeckt im letzten Jahr Ausstellungen gegeben, auch eine, glaube ich, hier in Berlin. Die Gruppe SPUR hat ebenfalls eine Reihe von Aktionen, die auf dem Hintergrund der Situationistischen Ideen konzipiert waren Nebenbemerkung: also so eine Parole, die dann später sehr bekannt geworden ist, wie „Phantasie an die Macht“ in der französischen Mai-Revolte, stammt aus dem Kreis der Situationistischen Internationale. Also die Gruppe SPUR hat eine Reihe von Aktionen gemacht neben ihrer Kunst, die sie gemacht haben, die sie auch begriffen haben, zum Teil anders als damals Kunst begriffen wurde. Sie haben z.B. auch kollektive Gemälde, kollektive Malaktionen durchgeführt und sehr stark kritisiert die Art und Weise wie in dem Kunstbetrieb mit den Individuen oder mit den Produkten der Individuen umgegangen worden ist, dabei spielt auch eine Rolle, auch eine Sache die aus der Situationistischen Internationale sehr stark kommt, die Kritik an der Einbeziehung oder Kooption von revolutionären oder nicht angepassten Verhaltensweisen Aktionen, Kunst z.B., die sehr schnell einfach in den Kulturbetrieb aufgenommen werden, ihrer ursprünglichen Impulse entledigt werden und benutzt werden, um Geld zu machen und um zu zeigen, dass es möglich ist, auch solche Kunst, selbst wenn sie revolutionär daherkommt, aufzunehmen in den normalen Kulturbetrieb. Die Kritik an diesem Mechanismus war also ein zentraler Punkt in der Gruppe SPUR und auch, glaube ich, ein Punkt, wo dann der Streit in der Gruppe SPUR nach einer Weile einsetzte, nämlich wie stark die politische Orientierung der Gruppe SPUR oder dieser Aktionen sein sollte. Die Gruppe selbst hatte also im Zusammenhang mit z.B. einem Gedicht über den Orgasmus der Mutter Maria in Bayern einen frühen, sehr frühen Prozess Dieter Kunzelmann saß da auch auf der Anklagebank – Pornographie und Gotteslästerung …
Also ich kürze das jetzt mal ganz rapide ab. Aus der Gruppe SPUR, praktisch in der Entwicklung hin zu dem Thema, zu dem wir jetzt sprechen, gibt es noch weitere Durchgangsstationen, aber wichtig ist dabei eigentlich der Grundgedanke, nämlich durch Aktionen, durch Provokationen von bestimmten Verhältnissen bestimmte Situationen zu schaffen, in denen die Beteiligten und die Zuschauer aus einem Spektakel lernen. Diese Geschichte zieht sich fort, um es kurz zu machen, aus der Gruppe SPUR ist praktisch dann die Subversive Aktion mit inspiriert worden und zum Teil auch personell angereichert worden. Die Subversive Aktion ist eine Gruppe, der dann Rudi Dutschke und Bernd Rabehl auch angehörten. Dieter Kunzelmann und einige andere, die hier in Berlin und München eine spezielle Rolle gespielt hat bei der Arbeit innerhalb des SDS und bei der Entwicklung innerhalb des SDS, auf die wir jetzt kommen werden. Ich möchte noch eine Sache abschließend sagen, die ebenfalls wichtig erscheint und zu der wir hoffentlich auch noch kommen, in der Situationistischen Internationale war bereits in der Kritik der Arbeiterbewegung und des traditionellen Marxismus sehr häufig die Rede in den Diskussionen und in den Texten von der Revolutionierung des Alltags und von der Schaffung revolutionärer oder kommunikativer Zusammenarbeitsverhältnisse unter den Leuten, die an der Revolutionierung der Gesellschaft arbeiten. Und die Kritik, die hier an den traditionellen Arbeiterparteien geleistet wurde, war eigentlich auch eine sehr entwickelte, nämlich dass die traditionellen Arbeiterparteien und der traditionelle Marxismus auch nur die Formen reproduziert, die bürgerliche Gesellschaft vorgibt und sie eben reproduziert in ihren Apparaten, in ihren Bewegungen und auch in den Staaten, die zu dem Zeitpunkt bereits als marxistisch kreierte Staaten sich verstanden. Also ich bitte jetzt Dieter Kunzelmann zu berichten, wie er hier nach Berlin kam und welche Kritik aus seiner Position er in dieser Zeit am SDS in dem Zustand 1964 formuliert hat.
Dieter Kunzelmann:
Also das, was gerade der Jochen ausgeführt hat und teilweise auch den Unmut hier hervorgerufen hat, das ist wirklich ein Problem auch für mich. Wie ich mir die ganzen Sachen mal wieder ein bisschen angeschaut habe, besonders in diesem Buch über die Subversive Aktion, wo wirklich sehr gute Texte noch mal abgedruckt sind, dass man sehr schnell vom hundertsten ins tausendste kommt und bei mir persönlich kommen noch andere Probleme hinzu, die ich vielleicht gleich am Anfang mal sagen möchte. Dass ich einfach mich nicht imstande fühle, mich in meiner eigenen Geschichte wie im Museum zu bewegen, weil das hat so was abgeschlossenes und so einen Abheftecharakter, der eigentlich nicht meiner Situation entspricht. (Zwischenruf: The show must go on…) Man muss ja auch zu der Veranstaltungsreihe, das finde ich ja noch irgendwo eine sehr lobenswerte Geschichte, das alles hier zu machen, aber dieses ganze zwanzig Jahre APO-Revival hat ja auch — und jetzt hier heute soll’s ja noch um die Vorgeschichte gehen, die tatsächlich sehr spannend ist — das hat schon was Widerwärtiges, nämlich das Widerwärtige ist nicht so sehr dieses nachträgliche Hochjubeln der antiautoritären Bewegung, was ja auch groteskerweise häufig von Leuten gemacht wird, die damals auf der Gegenseite standen …
Siegward Lönnendonker/Jochen Staadt (Hg.), 1968, Vorgeschichte und Konsequenzen. Dokumentation der Ringvorlesung vom Sommersemester 1988 an der Freien Universität Berlin, Berlin 1988, unpag.