Materialien 1959

Die Gruppe SPUR (1957 - 1966)

Nina Zimmer

Am 25. März 1957 gründeten sechs Länder – Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande – mit der Unterzeichnung des Vertrags von Rom die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zur Errichtung eines gemeinsamen Marktes. Im Juni schlos-
sen sich vier Studenten der Akademie der Bildenden Künste in München – Lothar Fischer, Heim-
rad Prem, Helmut Sturm und HP Zimmer – zu einer Künstlergruppe zusammen. Am 27. /28. Juli konstituierten Michèle Bernstein, Guy Debord, Asger Jorn, Walter Olmo, Giuseppe Pinot Gallizio, Ralph Rumney, Piero Simondo und Elena Verrone auf der Konferenz von Cosio d’ Arroscia in Italien die Situationistische Internationale.

Alle drei Ereignisse des Jahres 1957 bestimmten den Handlungsrahmen einer Gruppe, deren Name SPUR im Januar 1958 beim Betrachten von Fußspuren im Schneematsch gefunden werden sollte, der sich zeitweise Erwin Eisch, Dieter Kunzelmann, Uwe Lausen, Dieter Rempt und Senfft Hoh-
burg anschlossen. Ihre Anliegen waren eine experimentelle Kunst, gemeinschaftliches Arbeiten und gesellschaftliche Veränderung. Ihr Ausgangsfeld war die Nachkriegssituation, alle hatten deutsche Eltern und als Kinder den Krieg erlebt. Da die nationalsozialistischen Jahre Deutschland effektiv von der internationalen Entwicklung abgekoppelt und gleichzeitig für eine Amnesie ge-
sorgt hatten, welche die Jahre vor 1933 mitbetraf, musste die SPUR im Pleistozän der Moderne ansetzen: beim Kubismus und dem Blauen Reiter. Aus heutiger Perspektive ist schwer vorstellbar, dass die Kunst der Klassischen Moderne in den 1950er Jahren noch weitestgehend unbekannt war. Unter dem Begriff der «modernen Kunst» subsumiert, wurde sie – obwohl bereits historisch – noch als Gegenwartskunst verhandelt. Gleichzeitig wurden von der SPUR aber auch das Informel und der Abstrakte Expressionismus – beide während des Zweiten Weltkriegs im Ausland entstan-
den – rezipiert.

Und auf einmal hatte Deutschland eine Künstlergruppe, die mitten in der tiefsten Adenauer-Zeit einen bohemienhaften Lebensstil realisierte. Die SPUR-Mitglieder feierten hart (beim «Wascher-
maderlball» wurden sie von den Mädchen im Wirtshaus mit Verachtung gestraft, beim «Prem-
Biss» zog sich ein Kellner eine Bisswunde zu), lasen und diskutierten in nächtelangen Sitzungen gemeinsam Texte, inszenierten Skandale, schrieben Manifeste (von Ein kultureller Putsch, wäh-
rend ihr schlaft
1958 bis zum Gaudi-Manifest 1961), organisierten Ausstellungen ihrer Arbeiten zwischen München bis Kopenhagen, Palermo, Venedig und Paris), redigierten eine eigene Zeit-
schrift (SPUR Nr. 1 – 7), die anlässlich der Ausstellung in der Villa Stuck 2006 vollständig im Katalog reproduziert wurden und reisten im Gruppenbus kreuz und quer durch Europa von Skan-
dinavien, Frankreich, der Schweiz und den Niederlanden bis Italien. In einer Art künstlerischem Gegenentwurf zum vereinigten Westeuropa gelang es der Gruppe, als Teil eines international koo-
perierenden Netzwerks zu agieren und diesen Austausch für ihre künstlerische Arbeit fruchtbar zu machen.

In dem für eine Künstlergemeinschaft langen Zeitraum von neun Jahren durchlebten sie als Grup-
pe, aber auch einzeln, spannungsreiche Phasen. Am Anfang stand eine Beschäftigung mit dem In-
formel, insbesondere mit Wols – typisch hier die gemeinsame Graphikmappe von 1958 mit Texten von Jorn, Platschek und Franz Roh, die heute im SPUR-ARCHIV-BERLIN liegt. Inspiriert durch die Lektüre von Science-Fiction-Literatur und populärwissenschaftlichen Büchern zur Heisenberg-
schen Physik, die sie mit der Malerei Jackson Pollocks in Verbindung brachten, problematisierte die Gruppe die Verbildlichung von «Raum» und entwickelte in nunmehr großformatigen Ölbildern eine abstrakte Raumdarstellung mit mehreren Fluchtpunkten. 1959 folgte eine Werkgruppe, die die SPUR-Künstler selbst «Facettenstil» tauften. Weitestgehend monochrom, dominiert in diesen Arbeiten ein all-over von verzerrten Liniennetzen, aus denen sich einzelne Formfacetten in den Vordergrund drängen, die als Figuration lesbar werden können. Diese «Neue Figuration» stellte eine dialektische Synthese aus Figuration und Abstraktion her und überwand damit erstmals die erstarrten Gegensätze von Abstraktion und Realismus. Ab 1960/61 kommt die Farbe, nun direkt mit der Tube auf die Leinwand aufgetragen, als weiterer bildbestimmender Faktor hinzu. Im Zen-
trum der SPUR-Malerei steht jeweils ein spontaner, jedoch hochgradig komplexer Malprozess, der Spuren verschiedenster avantgardistischer Stile in sich trägt und die Entwicklungsgeschichte der Moderne somit immer mitreflektiert.

In der Erklärung von München vom 9. Juli 1959 formulierte die SPUR in einem unpublizierten Manuskript aus dem SPUR-ARCHIV-BERLIN: «Die neuen Gegenstände entstehen aus der Imagi-
nation. Sie sind antimagisch und antistatuarisch. Hugo Ball sagt, dass die Bilder der Imagination bereits Zusammensetzungen sind. Der Künstler, der aus der freischaltenden Imagination heraus arbeitet, erliegt in Punkto Ursprünglichkeit einer Täuschung. Er benutzt ein Material, das bereits gestaltet ist. In diesem Sinn sind die neuen Gegenstände nur eine Umformung der alten Gegen-
stände, wie die neue Malerei eine Verjüngung der abendländischen Tradition bedeutet. Ursprüng-
lich ist die Kunst der Primitiven, die nicht die Dialektik zwischen Imagination und Realität kennen; auf ihr – der Dialektik – überhaupt etablierte sich die europäische Kultur.»

Die historische Perspektivität der SPUR, die unabdingbar war, um sich als deutsche Gruppe wieder in der Gegenwart zu verorten, führte dazu, dass sich die Künstler bedingungslos in eine Tradition der Moderne stellten, zu deren Voraussetzungen das Paradigma des autonomen, originalen Werks und der Entwurf der Künstlerfigur als Avantgardist zählt. Damit war die Künstlergruppe nicht, nur von gemeinsamen ästhetischen Interessen zusammengehalten, sondern definierte sich als politi-
scher Gegenentwurf und erweiterte den Kunstbegriff zu einem oppositionellen gesellschaftlichen Handlungsfeld.

Damit fällt den SPUR-Künstlern seit 1957 die Entwicklung von performativen Strategien zu. Sie experimentierten mit verschiedenen Werkformen (von der informellen Mal-Performance im Pavil-
lon des Botanischen Gartens 1957 über den Bense-Skandal 1959, als sie einen angeblichen Vortrag des Philosophen Max Bense vom Tonband abspielten und die Kunstwelt narrten, bis hin zu Film-
projekten wie Albert Mertz’ So ein Ding muss ich auch haben, 1962) genauso wie mit heute selbst-
verständlichen Strategien von Publizität (den fanzine-artigen Zeitschriften, Flugblättern). Trotz-
dem blieb die Entwicklung der klassischen Medien Malerei, Zeichnung und Skulptur im Zentrum des künstlerischen Interesses. Gerade die neuen malerischen Freiräume, welche sich die Gruppe erarbeitete, bilden bis heute die Grundlage auf der z. B. Georg Baselitz und die neo-expressiven Neuen Wilden aufbauen konnten. Auch malerische Positionen der späten 1990erJahre zeugen von Verwandtschaften zur SPUR, die auf die nachhaltige Wirkmächtigkeit ihrer Arbeit verweisen.

Mit anarchisch-revolutionären Aktionen wie dem Bense-Skandal hatte sich die deutsche Gruppe für die SI legitimiert. Der exzellente Netzwerker und CoBrA-Veteran AsgerJorn hatte die SPUR in München kennen gelernt und den Kontakt vermittelt. Die III. Konferenz der SI wurde in München anberaumt und die SPUR im April 1959 als deutsche Sektion aufgenommen. Die von den Situatio-
nisten geprägte luzide Kulturkritik traf sich mit den Interessen der Deutschen, die mit dem Hand-
werkszeug einer intensiven Adorno-Lektüre (ein in Frankreich damals unbekannter Name) in den Diskurs einstiegen. So unterschiedlich auch ihre Voraussetzungen, gemeinsam war den deutschen Künstlern und den französischen Intellektuellen ein Avantgarde-Entwurf, wie man ihn von Futuri-
sten oder Surrealisten kennt: Leben und Kunst sollten in einem revolutionären Prozess ineinander überführt werden und in der spielerischen Befreiung des Menschen von der entfremdeten Arbeit münden.

Aufregend neu war jedoch die Strategie der SI: Es wurde nicht mehr der offene Schlagabtausch mit der bürgerlichen Gesellschaft gesucht, sondern mit den kulturrevolutionären Guerilla-Taktiken von détournement und dérive interveniert. Wie Holger Liebs feststellte, ist es ein leichtes, diese situationistischen Begrifflichkeiten der Malerei der SPUR-Künstler zuzuschreiben, ihre ergebnisof-
fenen, ausschweifenden Malprozesse als dérives und ihr konsequentes Recyceln und Collagieren von Bildzitaten und Stilebenen als détournements zu bezeichnen. Etwa drei Jahre lang währte die enge Freundschaft und Zusammenarbeit, Texte zirkulierten zwischen ihren Zeitschriften; die um-
fangreiche Korrespondenz zwischen den Situationisten in München, Paris, Amsterdam, Brüssel oder Kopenhagen ist Zeugnis der Intensität der gemeinsamen Arbeit an realisierten und verworfe-
nen Projekten. Dennoch zeichneten sich gewisse Grenzen der Übereinstimmung von SPUR und SI ab. Es ergaben sich von Konferenz zu Konferenz zunehmend Differenzen, die übrigens nicht an sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten lagen, sondern grundsätzlicher Natur waren. Wäh-
rend die Konstellation um Debord Grundübereinkünfte der Moderne aufkündigte, wie das spon-
tane, originäre, von einer individuellen Handschrift geprägte autonome Kunstwerk, dessen Quali-
täten sich in einem Objekt manifestieren, gehörte das solcherart verstandene Kunstwerk zum Grundkonsens der Vertreter des künstlerischen Flügels der I.S. Für die deutschen Künstler er-
schien ein dépassement de l’art in besonderer Weise einem Angriff auf die künstlerische Freiheit gleichzukommen. In der Logik der SI machte das die SPUR zu Rechtsabweichlern, 1962 folgte der Ausschluss. Inszeniert wurde er sehr aufwändig mit der gedruckten Erklärung Nicht Hinausleh-
nen!,
für das Verfahren appropriierte man die Form eines Tribunals, zu dem man die SPUR-Künst-
ler nach Paris einbestellte.

Der Ausschluss der SPUR zog konsequenterweise im selben Jahr noch Ausschlüsse oder Austritte des gesamten aile artistique aus der SI nach sich. Damit waren etwa auch Jacqueline de Jong oder Asger Jorn nicht mehr vertreten. Jorns künstlerisches Werk entstand aus einem ausgesprochen konventionellen Werkverständnis heraus, als Financier war er jedoch unverzichtbar für die SI und wurde deshalb unter dem Pseudonym «Keller» wieder aufgenommen.

Noch im gleichen Jahr 1962 musste sich die SPUR gegenüber der bundesdeutschen Justiz in einem realen Verfahren gegen den Vorwurf der «Verbreitung unzüchtiger Schriften» und «Religionsbe-
schimpfung» verteidigen. Inkriminiert wurde von der Münchner Staatsanwaltschaft die SPUR-
Zeitschrift Nr. 6. Hier stieß die Gruppe vom anderen Ende des gesellschaftlichen Spektrums her an die Grenzen dessen, was historisch möglich war. Mehrmonatige Bewährungsstrafen wurden ausge-
sprochen, der sogenannte SPUR-Prozess zog internationale Aufmerksamkeit auf sich, da es sich um den ersten Kunstprozess in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg handelte.

1966 löste sich die SPUR im Zangengriff von Pop-Art und politisierenden Gruppenbildungen im Vorfeld der Studentenbewegung auf: Das weitere Schicksal der SPUR-Künstler verlief sehr unter-
schiedlich. Uwe Lausen verübte 1970 Selbstmord, Heimrad Prem nahm sich nach einem ersten missglückten Versuch 1971 im Jahr 1978 das Leben. Dieter Kunzelmann brachte das spielerisch-revolutionäre Element der SPUR in die Kommune 1 und die Subversive Aktion in Berlin ein – Fischer, Sturm und Zimmer verfolgten individuelle Künstlerkarrieren.

Obwohl Situationisten und SPUR über mehrere Jahre eine untrennbare Einheit darstellten, sind es doch von beiden sehr unterschiedliche Erkenntnisse, die aus heutiger Perspektive interessant er-
scheinen. Während das malerische Neuland, das die SPUR betrat, noch immer von nachfolgenden Künstlern weiter erforscht wird, hat der Paradigmenwechsel, den die SI miteingeläutet hat, eigent-
lich erst in der Gegenwartskunst Werke möglich gemacht, die situationistischen Prinzipien – viel-
leicht – gerecht geworden wären.

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1 = In Kreisen schweifen wir durch die Nacht/und verzehren uns im Feuer.


Stefan Zweifel/Juri Steiner/Heinz Stahlhut für Museum Tinguely (Hg.), In girum imus nocte et consumimur igni1 – Die Situationistische Internationale (1957 – 1972), Zürich/Basel 2006, 243 f.

Überraschung

Jahr: 1959
Bereich: Kunst/Kultur

Referenzen