Materialien 1960
Traktat über den Spießer
Aus Anlass zweier Münchener Theaterpremieren / Von Walter Abendroth
Unmittelbar aufeinander folgten in München zwei Erstaufführungen, die auf überraschende Weise ein Generalthema aller sozialpolitischen Problemphilosophie variierten: das Thema „Spießer“.
Ein ungemütliches Thema, ein gefährliches, ein schwieriges …
Das Residenztheater brachte Max Frischs dramaturgisch überzogenes Lehrstück „Biedermann und die Brandstifter“ heraus, die Kammerspiele zeigten Jean Anouilhs Komödie „General Quixotte oder der verliebte Reaktionär“, die im Original den Titel „L’Hurluberlu“ trägt.
Beide Stücke waren durchschlagende Erfolge – was sich aus der hier wie dort glänzenden Auffüh-
rung erklärt, die bei Frisch unter Kurt Meisels Regie, die schwachen Seiten der Konzeption hinter dem phantastischen Realismus der Idee verschwinden ließ, bei Anouilh unter Hans Schweikarts pointensicherer Spielführung die geschliffenen Sentenzen der klassischen französischen Dialog-
kunst in funkelnder Pracht ausbreitete. Zum begeisterten Beifall für virtuose Interpretationslei-
stung war um so mehr Anlass gegeben, als an beiden Abenden auch noch je ein brillantes „Solo“ das erstklassige Ensemble überstrahlte: Hans-Dieter Zeidler, der Liebling des Frankfurter Thea-
terpublikums, als urig-abgründiger Ringer Schmitz (jene Rolle also, in der vor allem Ullrich Haupt brillierte) in der Brandstiftertragiposse, und Axel von Ambesser in der Titelrolle der Generalspersi-
flage.
Nicht nur Frischs „Biedermann“ ist, wie schon sein Name verrät, eine Porträtskizze des „Spießers“, sondern Anouilhs General Quixotte ist es ebenso. Biedermann und Quixotte gehören zusammen wie das Negativ und das Positiv einer Photographie: Biedermann, der Egoist verlogenen Selbstbe-
hagens zwischen Brutalität gegen die Wehrlosen und Feigheit gegenüber den Überlegenen, da-
durch Mithelfer eines Verbrechens, dessen Opfer er selbst sein wird; und Quixotte, der „Reaktio-
när“, dessen konservativer Charakter ihn am „Widerstand“ irremacht und über den die Zeit hin-
wegtanzt, ohne ihn widerlegen zu können.
Der Spießer hat seinen soziologischen Ort zwischen den Mächtigen und den Machtlosen. Diese Position bestimmt seine eigene Macht und Ohnmacht; sie macht ihn zum potentiellen Hüter aller Ordnungen, zum Träger und Wächter der Zivilisation einerseits, zum potentiellen Verbrecher andererseits. Ob er Reaktionär oder Revolutionär wird, das richtet sich danach, auf welcher Seite er seiner Selbsterhaltung jeweils am besten zu dienen glaubt. Im Grunde „will“ er nichts als den bequemen Genuss des Daseins im größtmöglichen Wohlstand. Darum ist er Bewahrer der beste-
henden Ordnung, solange es geht. Denn vom Bestand der gegebenen Verhältnisse ist ja auch das ganze System der Sicherungen abhängig, mit welchem er meint, dem Schicksal entgegenwirken zu können.
Dieser grundsätzlich erwünschten Bewahrung der bestehenden Ordnung dienen auch seine unver-
rückbaren Ehr- und Anstandsbegriffe. Ihre Respektierung verbürgt die Stabilität seiner Existenz; und sogar – seinen eigenen Zusammenhalt.
Traktat über den Spießer
Es war, nach dem Ablauf der bewussten „tausend Jahre“, eine Zeitlang Mode, dem deutschen Spie-
ßer eine absonderliche Hintergründigkeit nachzusagen, da er, der so harmlos erscheinende, bil-
dungsfreudige Gemütsmensch sich urplötzlich als Bestie demaskiert hatte. Aber das ist durchaus keine deutsche Spezialität. Heinrich Heine fand es einmal bemerkenswert, dass die bluttriefenden Septembermörder der Französischen Revolution, die Abschlächter von Greisen, Frauen und Kin-
dern, keineswegs der sogenannten „Hefe“ angehörten, sondern lauter „gute Pariser bourgeois“, lauter nette, gutmütige Kleinbürger waren …
Daher denn, wer da weiß, was die „bestehende Ordnung“ für den Spießer immer bedeutet, mögli-
cherweise noch überzeugter enragierter Konservativer sein kann, wie jener brave General Quixotte, in dem sich der militante Idealismus des besonnenen Spießers verkörpert: Gegenstand des Geläch-
ters aller Aufgeklärten, Fortgeschrittenen und „freien Geister“.
Anouilh lässt uns raten, ob er selber wohl glaubt, man solle die Donquixotterie des Konservativis-
mus nicht zu leicht verachten. Frisch lässt keinen Zweifel an der nihilistischen Perspektive, die sich auftut, sobald der Spießer aus Dummheit oder aus Feigheit mit der Unordnung paktiert.
Hier wie dort amüsierte sich das Publikum. Dabei wäre es der größte Triumph für beide Autoren gewesen, wenn die Spießer dem Reiz zum Lachen widerstanden hätten, weil ihnen schauderte …
Die Zeit 7 vom 12. Februar 1960.