Materialien 1960
Eine „Dame“ wollte ihre Aktien verkaufen
Die Sperrzonen in München bewährten sich nicht
Die Münchner Zeitungen beschäftigen sich seit einiger Zeit wieder ausführlich mit dem heikelsten aller Großstadtprobleme. Den Überschriften wie „Proteste gegen Dirnenunwesen“ folgen zwar re-
gelmäßig andere wie „Sittenpolizei verbessert Überwachung“, aber in bestimmten Stadtgebieten sind die Zustände schier unerträglich geworden. 85 Prostituierte, gab kürzlich ein Polizei-Inspek-
tor bekannt, seien an einer einzigen Ecke namentlich festgestellt worden.
Derartige Zusammenballungen machen sich nicht nur akustisch unangenehm bemerkbar, sie führen auch im Rahmen des Konkurrenzkampfes zu harten Auseinandersetzungen. „Fast jede Nacht geraten sich die Damen aus Brotneid in die Haare“, erklärte der gleiche Polizei-Inspektor, und er meinte: „Mit dem Sperring, der am Grünen Tisch festgelegt wurde, hat man genau das Gegenteil von dem erreicht, was man erreichen wollte; Der Schutz der Jugend ist weniger denn je gewährleistet.“
Dabei waren Münchens Stadtväter auf diesen Sperrbezirk Anfang Mai noch sehr stolz gewesen. Damals trat eine entsprechende Verordnung in Kraft, die gesetzlich wohl fundiert war, und das aus gutem Grund: Bereits Ende Dezember 1956 hatte sich der Stadtrat eine „örtliche Strafvorschrift zum Schutz der Ordnung auf öffentlichen Straßen“ ausgedacht, in der „Personen, die der Unzucht gewerbs- oder gewohnheitsmäßig nachgehen“, untersagt wurde, „sich zu diesem Zweck“ in einem genau umrissenen Terrain des Stadtkerns aufzuhalten.
Auf nach Schwabing
Die Initiative im Jahr 1956 ging von der CSU-Stadträtin Centa Hafenbrädl aus. Etliche Sozialde-
mokraten warnten allerdings davor, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit all jener Damen, die bei Einbruch der Nacht vorwiegend das Gebiet um den Hauptbahnhof zu umschwär-
men pflegten, zumindest in geographischer Hinsicht einzuschränken, aber ihre Opposition er-
mangelte aus verständlichen Gründen der rechten Bravour, und Centa Hafenbrädl setzte sich durch.
Hurtig verließen die Damen ihre altgewohnten Gegenden und setzten sich an den Rändern des Sperrbezirks fest. Eine Welle von Prostituierten ergoß sich über Schwabing, ein Viertel, das bis da-
hin für Prostituierte eigentlich als unergiebig gegolten hatte. Hauptstützpunkt wurde die Leopold-
straße, unmittelbar hinter dem Siegestor – gleichzeitig die Grenze Schwabings nach Süden, und die des Sperrbezirks nach Norden.
Allein, die Sittenpolizei durfte sich der gesäuberten Innenstadt nicht lange erfreuen. Noch bevor die aufgebrachten Schwabinger die ersten Protestaktionen starteten, machte sich unter den Münchner Amtsrichtern eine auffallende Laxheit bemerkbar: Eingeleitete Verfahren gegen im Zentrum erwischte Dirnen wurden eingestellt, der Erlaß von Strafbefehlen abgelehnt. Lärmend drangen übermäßig geschminkte Personen weiblichen Geschlechts ins Sittendezernat des Poli-
zeipräsidiums ein, um den dortigen Beamten die ihnen zugesandten Einstellungsbescheide unter die Nase zu halten.
Notschrei des Rechtsreferenten
Die Verordnung des Stadtrats entbehrte nämlich der notwendigen juristischen Basis, und so nahm die Rechtsprechung der Münchner Amtsrichter sehr schnell einheitliche Formen an; Strafen wur-
den gegen im Sperrbezirk angetroffene Dirnen nicht verhängt. Verzweifelt erinnerte der Rechtsre-
ferent der Landeshauptstadt die Staatsanwaltschaft noch an den Paragraphen 42 der Straßenver-
kehrsordnung, der das Anpreisen gewerblicher Leistungen auf der Straße untersagt. Auch diesen Notschrei erstickte ein Amtsgerichtsrat schnell. Das Gegenteil ergebe sich aus dem Gewerbssteu-
errecht, fixierte er in einer Einstellungsbegründung.
Triumphierend verließen die Prostituierten die Schwabinger Gefilde, und bereits ein halbes Jahr nach Erlaß der Verordnung konnten aufmerksame Zeitungsleser feststellen, daß Dirnen sich wie-
der in der Innenstadt um Kundschaft umsahen. Die schon etwas bejahrte Maria Hölzl hatte inner-
halb des Sperrgebiets einen 15jährigen Mechanikerlehrling kennengelernt und heimgenommen. Der Junge wurde seinen ganzen Wochenlohn los und rannte dann, von Gewissensbissen geplagt, der Veteranin ein Küchenmesser zwischen die Schulterblätter. Trotz der schweren Verletzung warf Maria Hölzl den Knaben aus ihrer Wohnung, mußte allerdings eine mehrwöchige Arbeitsunfähig-
keit beklagen.
Als einige Monate später ein 20jähriger Hilfsarbeiter von Maria Hölzl sein Geld zurückverlangte und sie, weil sie sich weigerte, hart würgte und ihr einen Wassertopf auf den Kopf schlug – sie überstand auch dieses Attentat -, hatte die Stadt ihre Verordnung bereits formell wieder aufgeho-ben. Aber Mitte 1960 begann das Kommunalparlament erneut, über einen Sperrbezirk nachzu-sinnen, in dem „zum Schutze der Jugend“ die Prostitution untersagt werden könne.
Diesmal waren die juristischen Grundlagen solider. Ende April wurde die Verordnung rechtskräf-
tig. Vorher schon hatte die Münchner „Abendzeitung“ für ihre Leser eine genaue Karte des Tabu-Gebiets veröffentlicht, zu dem jetzt auch Schwabing gehörte.
Polizisten verteilten an die Münchner Prostituierten Merkblätter mit den Grenzen der Sperrzone und den Strafen bei Zuwiderhandlung; die Damen mußten schriftlich quittieren, und der Polizei-
präsident war voll des Lobes: „Die Dirnen sind brav und folgen uns wie die Schafe.“
Gegen etliche mußten freilich Haftstrafen verhängt werden, andere schafften sich Kraftfahrzeuge an und betrieben ihr Gewerbe motorisiert. Aber der Vergleich war trotzdem nicht ganz abwegig: Die Damen traten jetzt hordenweise auf, und zwar in Wohngebieten, während sie sich zuvor über ein riesiges Geschäftsviertel verteilt hatten. „Früher“, so meinte ein Polizei-Inspektor, „waren überall einige Dirnen, jetzt haben wir jedoch drei Brennpunkte“ für 500 Prostituierte, denn nach den Beobachtungen dieses Inspektors ist ihre Zahl mittlerweile um ein Viertel gestiegen.
Bei diesen drei Brennpunkten handelt es sich um gutbürgerliche Wohngebiete, deren Bewohner seither laut und nachdrücklich protestieren, weil sie fortwährend belästigt werden und selbst im Hochsommer wegen des unerträglichen Lärms ihre Schlafzimmerfenster geschlossen halten muß-
ten. Bislang verhallten die Proteste ohne sonderliches Echo. Die polizeilichen Maßnahmen richten sich weniger gegen die Damen als gegen die „Freier“, die mit Kraftfahrzeugen anreisen und dabei nicht immer die Straßenverkehrsordnung beachten. An einer der drei Ecken gelang es schließlich, die Kundschaft für kurze Zeit zu verscheuchen. Daraufhin beschwerte sich eine der dortigen Prosti-
tuierten bitter: Ihre Einnahmen ließen nach, und sie mache sich ernstlich Gedanken darüber, ob sie Aktien verkaufen solle.
Dazu, die Grenzen des Sperrbezirks zu korrigieren, und damit die Dirnen aus den Wohngebieten abzuleiten in Straßen, wo keine Kinder sich für ihr Treiben interessieren können, vermochte sich der Münchner Stadtrat aber bislang nicht zu entschließen. Dann müßte er nämlich zugeben, daß sein Unternehmen alles in allem ziemlich mißglückt ist, und welcher Stadtrat gibt so etwas schon freiwillig zu?
Otto von Loewenstern
Die Zeit 1 vom 5. Januar 1962.